Der Künstler bleibt im Bilde

Die «Notizbücher» Giovanni Giacomettis
Der berühmte Bergeller Maler Giovanni Giacometti (1868–1933) hat während seiner langen Karriere seine wichtigsten Ölgemälde in vier Heften nochmals minutiös mit Farbstift und Tusche skizziert und ­weitere Angaben dazu notiert. Nun kann dieses einzigartige «Registro dei quadri» online konsultiert werden und vom ersten Heft wurde sogar ein Faksimile produziert.
Text 
Matthias Oberli
Bilder 
Bilder SIK-ISEA

Heutzutage, da das Smartphone zum ständigen Begleiter geworden ist und uns jederzeit und überall das Anfertigen von brillanten und hochauflösenden Fotos in fast unbeschränkter Anzahl erlaubt, ist die Situation, in der sich Kunstschaffende vor etwas mehr als einhundert Jahren befunden haben, nur noch schwer nachvollziehbar. Damals war das Fotografieren aufwendig und teuer, Farbfilme gab es noch keine. Hatte jedoch ein Maler das Glück, eines seiner Ölgemälde verkaufen zu können, wie sollte er dann das Werk, das sein Atelier unwiderruflich verlassen würde, zuverlässig für seine Unterlagen dokumentieren, damit er sich stets daran erinnern konnte und über seine Produktion im Bilde blieb?

Giacometti

Giovanni Giacometti, Selbstbildnis im Schnee, 1899, Öl auf Leinwand, 40 x 60 cm, Musée d’art et d’histoire, Genf, Inv.-Nr. 1901-7. (Foto: Bettina Jacob-Descombes)

​Aus der Not eine Tugend machen

Der 1868 in Stampa geborene Maler Giovanni Giacometti machte aus der Not eine Tugend und legte ein Register seiner verkauften Bilder an. Aus den oben erwähnten Gründen konnte er jedoch nicht zum Fotoapparat greifen, sondern er skizzierte mit Farbstift und Tusche in vier Heften nochmals die Grundzüge des entsprechenden Gemäldes und notierte dazu die wichtigsten Angaben wie Titel, Masse, Ausstellungen, Verkaufspreis und Namen der neuen Besitzer. Auf diese Art und Weise dokumentierte der Bündner Künstler eigenhändig während vier Jahrzehnten über fünfhundert seiner Gemälde, die er zwischen 1894 und seinem letzten Lebensjahr 1933 geschaffen hatte.
 
Mit der Anlage eines eigenhändigen Verzeichnisses seiner Werke reiht sich Giovanni Giacometti in eine lange Künstlertradition ein. Bereits der Franzose Claude Lorrain (1600–1682) führte ein sogenanntes «Liber veritatis», in dem er rund zweihundert seiner Landschaftsgemälde mit Zeichnungen doku­mentierte, um sich damit gegen Nach­ahmungen von Fälschern zu schüt­zen. Tabellarische Auflistungen der eigenen Gemälde kennen wir von Albert Anker (1831–1910) und seinem «Livre de vente» oder vom Lausanner Maler und Grafiker Félix Vallotton (1865–1925) und dessen «Livre de raison». 

Innerhalb dieser Gattung privater Werk­verzeichnisse von Künstlern nimmt Giacomettis «Registro dei quadri» aufgrund seines Umfangs von über fünfhundert von ihm selbst skizzierten Werkabbildungen eine herausragende Stellung ein. Abgesehen von seinem Künstlerfreund Cuno Amiet (1868–1961), der mit Farbskizzen zwei Verzeichnisse von über zweihundertsiebzig seiner Werke anlegte, machte sich kein Maler vor und nach Giacometti die Mühe, eine solche Vielzahl eigener Arbeiten über einen so langen Zeitraum nochmals akribisch mit Zeichnungen festzuhalten.

Giacometti

Die vier Registerhefte von Giovanni Giacometti befinden sich heute im Kunstarchiv des Schweizerischen Instituts für Kunst­wissenschaft (SIK-ISEA) in Zürich. (Foto: SIK-ISEA, Philipp Hitz)

​Zeichen des Erfolgs

Giovanni Giacometti gilt als einer der bedeutendsten Schweizer Maler des frühen 20. Jahrhunderts. Von längeren Studienaufenthalten in München, Paris und Rom abgesehen, verbrachte der Künstler sein gesamtes Leben bis zu seinem Tod in seiner Bergeller Heimat. Hier und im angrenzenden Oberengadin boten ihm die alpine Landschaft und ihre Bewohner ebenso wie seine Familie immer wieder neue Inspira­tionsquellen für seine farbenprächtigen und lichtdurchfluteten Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Grafiken. Im Lauf seiner Karriere hat der Maler weit über eintausend teils grossformatige Ölgemälde geschaffen. Viele dieser Werke befinden sich noch heute in Privatbesitz, rund einhundertfünfzig herausragende Werke sind in den grossen Kunstmuseen und öffentlichen Sammlungen der Schweiz anzutreffen.

Seine ersten grösseren Erfolge feierte Giovanni Giacometti um die Jahrhundertwende mit Ausstellungsbeteiligungen in der Schweiz und in Deutschland. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts avancierte er zusammen mit Cuno Amiet neben Ferdinand Hodler (1853–1918) zum «Dreigestirn der Malerei der Schweizer Moderne». In den 1920er- und 1930er-Jahren widmeten ihm zahlreiche Schweizer Museen ­umfangreiche Einzelausstellungen, er erhielt öffentliche Aufträge, stellte an der Kunstbiennale von Venedig aus und war Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission.

Giacomettis vier Registerhefte, die von seinem jüngsten Sohn, dem bekannten Architekten Bruno Giacometti (1907–2012) dem Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA) in Zürich geschenkt wurden, weisen unterschied­liche Papiersorten auf und sie variieren auch in ihren Massen mit einem durchschnittlichen Seitenformat von 25 x 18 cm. Auch in formaler und inhaltlicher Sicht unterscheiden sie sich: Im ältesten Heft («Quaderno 1»), das auf kariertem Papier 90 Arbeiten der Jahre 1894–1909 umfasst, hat der Künstler vor allem mit Farbkreide und Tusche seine Werke nochmals grossformatig skizziert und ausführlich annotiert. Im zweiten, erst nachträglich entdeckten Heft («Quaderno 1/A»), in dem 148 Werke der Jahre 1909 bis 1913 in eher kleineren, manchmal auch monochromen Abbildungen wiedergegeben sind, finden sich auch Notizpassagen zur Kunsttheorie und tagebuchähnliche Einträge des Künstlers. «Quaderno 2» aus den Jahren 1914 bis 1928 weist auf durchscheinendem Papier zusätzlich zu den zunehmend vereinfachenden 259 Werkabbildungen verschiedene Entwurfskizzen auf. Das letzte, nur noch zehn bemalte Blätter umfassende «Quaderno 3», das von 1926 bis zu Giacomettis Tod 1933 reicht und 36 Werke aufführt, hat eher flüchtigen Charakter.

Die schwindende Detailtreue in den Registerheften zeugt vom wachsenden Erfolg des Künstlers. Fand er zu Beginn seiner Laufbahn offenbar noch genügend Zeit, um die verkauften Gemälde genau zu skizzieren, so scheint er sich mit seinen zunehmenden Verpflichtun­gen darauf beschränkt zu haben, die Werke nur noch soweit festzuhalten, dass sie gerade noch erkennbar waren.

Goiacometti

Giovanni Giacometti, Registro dei quadri, Quaderno N° 2 (1914–1928), S. 29 mit diversen Gemäldeskizzen mit Notizen. (Foto: SIK-ISEA, Zürich, Philipp Hitz)

​Giacomettis «Registro» jetzt online und als Faksimile

Giovanni Giacomettis Album seiner eigenen Arbeit ist von unschätzbarem Wert. Es belegt nicht nur den Prozess der künstlerischen Verdichtung des sich selbst dokumentierenden Malers, sondern es dient ebenso der Identifizierung der exakten Werktitel oder dem Nach­weis der Erstbesitzer der Gemälde. Zudem sind in diesem Verzeichnis 81 Werke aufgeführt, deren Standort seit der Erarbeitung des 1997 erschienenen Werkkatalogs durch Paul Müller und Viola Radlach noch immer unbekannt ist. 

Mit finanzieller Unterstützung der ­Gemeinden Bergell, Silvaplana und St. Moritz sowie der Kulturförderung Graubünden und des Beitragsfonds der Graubündner Kantonalbank hat das Schweizerische Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA) Giacomettis Re­gisterhefte digitalisiert und publiziert sie nun online unter www.giovanni-giacometti.ch. In Zusammenarbeit mit Somedia in Chur hat SIK-ISEA zudem ein Faksimile des ersten Registerheftes produziert, sodass nun alle Interessierten einen intimen Blick in Giovanni Giacomettis Bilderwelt und Arbeitsprozess werfen können.

Weitere Infos

Autor
Matthias Oberli leitet am Schweize­rischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA) in Zürich die Abteilung Kunst­dokumentation und ist Mitglied der Institutsleitung.

Literatur
Faksimile CHF 28.–, 
ISBN 978-3-908196-84-6, bestellbar über www.sik-isea.ch 

Online
www.giovanni-giacometti.ch (ab 9. Dezember 2015 online)