Angekommen: Joachim B. Schmidt auf der Terrasse seines Sommerhauses … (Foto: Julian Reich)
Jeder Schritt ist Schmerz. Die Kälte sticht wie tausend Nadeln. Das eisige Wasser umspült die Knöchel, die Waden, bald auch die Knie. Meine Füsse treten auf scharfe Kanten, doch diese sind kaum mehr zu spüren. Alles sticht, alles schmerzt. Ich stehe in der Mitte des Flusses Botnsá, kurz bevor er sich über fast 200 Meter in die Tiefe stürzt. Hinter mir liegen 20 Meter Eiswasser, Kälte und Schmerz, vor mir noch einmal so viel. Zurück ist keine Option.
Am Morgen klang alles toll: eine Wanderung zum Glymur, dem mit 198 Metern zweithöchsten Wasserfall Islands, eine knappe Autostunde von Islands Hauptstadt Reykjavik entfernt. «Drei Stunden, maximal, wird die Wanderung dauern», hatte Joachim B. Schmidt versprochen. Der bärtige Bündner lebt seit über 17 Jahren in Island, hat die isländische Sprache und Staatsbürgerschaft angenommen und steht jetzt im Flanellhemd und Wanderhosen auf dem Parkplatz, dem Ausgangspunkt der Wanderung.
Joachim B. Schmidt unterwegs mit seiner Tochter. (Foto Isabelle Brügger)
Schmidt ist als Sohn eines Landwirts in Cazis am Heinzenberg aufgewachsen. Zum Schulabschluss schenkte ihm seine Patentante eine Reise in ein Land seiner Wahl in Europa. Er wählte Island, fuhr 1997 hin und war fasziniert. Später kehrte er als Tourist zurück, dann für ein ganzes Jahr, um herauszufinden, ob er den isländischen Winter aushielte. 2007 entschied er, Island zu seiner Wahlheimat zu machen und erwarb die Staatsangehörigkeit. Er arbeitete in Reykjavik in verschiedensten Berufen – als Journalist, Touristenführer, Gärtner und Molkereiarbeiter –, bevor er hauptberuflich Schriftsteller wurde.
Wir wandern los, zuerst über einen vielfach betretenen Weg, gesäumt von Heidekraut und anderem Buschwerk. Mücken schwirren zu Millionen durch die Luft. «Einfach in Bewegung bleiben. Das sind Zuckmücken, die stechen nicht», sagt Schmidt und wedelt mit den Händen vor seinem Gesicht. Nach einer halben Stunde gelangen wir an eine Felskante. Von hier aus blicken wir hinunter auf den Fluss Botnsá, der aus einer Schlucht vom Glymur-Wasserfall in den Hvalfjörður fließt – den «Walfjord».
Im Land der nordischen Dichter und Denker: Joachim B. Schmidt. (Foto: Julian Reich)
In Island, dem Land der Erzähler, hat alles eine Geschichte. Und unser Wanderführer, der auch Schriftsteller ist, beginnt die Geschichte des «Walfjords» zu erzählen: «Vor hundert Jahren waren einige Männer aus Reykjavik auf Vogeljagd auf einer Insel vor der Küste. Einer ihrer Kameraden verschwand spurlos, und sie mussten ohne ihn zurückkehren. Ein Jahr später fanden sie den Mann wohlbehalten auf den Felsen sitzen. Er sei von den Elfen verzaubert worden, weshalb er unsichtbar gewesen sei.»
Geschichten erzählen, das war schon immer Schmidts grösstes Talent. Seine Romane handeln oft von Aussenseitern, die ihren Platz in einer brüchigen Welt suchen. Etwa Kalmann, die Hauptfigur seines 2020 beim renommierten Diogenes-Verlag erschienen Krimis. Jüngst folgte mit «Kalmann und der schlafende Berg» eine Fortsetzung, mit der Schmidt im Herbst auf Lesetour in der Schweiz und Deutschland sein wird – und mit dem aktuellen Vulkanausbruch nahe Reykjavik eine nachträgliche Entsprechung in der Wirklichkeit gefunden hat. Die Lavaströme könnten Bomben der US-Armee zünden, die in den 1950er-Jahren dort verscharrt worden waren. Und auch in Schmidts neuem Roman eine Rolle spielen. «Kalmann und der schlafende Berg» wurde in diesem Jahr mit dem Glauserpreis geadelt.
Kalmann ist aber nicht die einzige Figur, die Schmidt ins literarische Leben gebracht hat. Für seine zeitgenössische Adaption des «Tell»-Stoffes erhielt er vor einem Jahr den Bündner Literaturpreis, das Theater Chur zeigte 2024 eine Bühnenfassung. Schmidt gehört mittlerweile zu den etablierten Stimmen in der literarischen Schweiz – von Island aus.
Der donnernde Wasserfall: Blick auf den Glymur, zweithöchster Wasserfall Islands. (Foto: Isabelle Brügger)
Wir wandern, Schmidt erzählt: «Einige Tage nach der Rückkehr der Männer, es war Sonntag, die Gemeinde sass in der Kirche, lag plötzlich ein Korb vor der Türe, darin ein Kind und ein Brief: Der Vater des Kindes werde dafür sorgen, dass es getauft werde. Doch der Mann, der ein Jahr bei den Elfen und mit einer Elfenfrau verbracht hatte, leugnete alles. Woraufhin die mächtige Elfin vor der Kirche erschien und den Mann verfluchte: Er solle zum bösesten Wal werden, den die Welt je gesehen hatte, und viele Boote und Schiffe versenken. Der Mann rannte zum Meer und sprang hinein, wobei er sich in einen Wal verwandelte.»
Wir gelangen hinunter zum Fluss, und Schmidt macht Pause. «Cliffhanger», sagt er verschmitzt und zeigt auf das Seil, das sich über den Fluss spannt, darunter ein Baumstamm, über den wir klettern müssen, um den Fluss ein erstes Mal zu überqueren. «Normalerweise fliesst hier nur halb so viel Wasser», sagt Schmidt stirnrunzelnd. Wir wagen es trotzdem. Ziehen die Schuhe aus, krempeln die Hosenbeine hoch, greifen das Seil und balancieren hinüber, wo uns der nächste Mückenschwarm erwartet.
Jetzt steigt der Weg an, mal über Stufen, mal über glitschige braune Erdhänge nehmen wir Höhenmeter um Höhenmeter. Bald liegt der Fluss weit unten in der Tiefe. Wir überholen Touristen in Turnschuhen, die sich bis an die Kante vorwagen, um das perfekte Selfie zu schiessen. Wir schütteln den Kopf, wedeln die Mücken weg.
«Wie geht die Geschichte weiter?», frage ich, und Schmidt erzählt im Gehen: «Der Wal trieb also sein Unwesen im Fjord, brachte Boote zum Kentern und viele Fischer um ihr Leben. Ein alter, blinder Priester hatte eine Tochter und zwei Söhne. Auch die Söhne wurden Opfer des Wals. Die Tochter bat daraufhin den Priester, der magische Kräfte besass, etwas zu unternehmen. Er ging zum Meer und schwang seinen Stab über seinem Kopf, woraufhin der Wal heranschwamm. Der alte Mann hiess seine Tochter, ihn weiter ins Landesinnere zu führen, dem Fluss entlang. Und der Wal konnte nicht anders, als ihnen zu folgen, immer weiter, bis zum Wasserfall und über den Wasserfall hinaus. Als der Wal hier hochschwamm», Schmidt schaut hinein zwischen die Felsen, aus denen die Gischt braust, «donnerte es so sehr, dass der Wasserfall fortan Glymur genannt wurde, was Dröhnen bedeutet. Der Priester zog den Wal bis zum See, der oberhalb des Wasserfalls liegt und seither Hvalvatn, also Walsee, heisst.»
Wir stehen auf einem Felsvorsprung, vor uns geht es Dutzende Meter in die Tiefe. Wir blicken auf den Wasserfall, der zwischen engen Felsen hervorsprüht. Sein Tosen erinnert tatsächlich an ein Dröhnen, als fiele nicht Wasser herunter, sondern würde ein Wal hinaufgezogen. Eissturmvögel kreisen durch die Luft und landen in den Felsen, wo sie brüten. Immer paarweise kümmern sie sich um ein einziges Ei pro Jahr.
Als Joachim B. Schmidt nach Island übersiedelte, war es die Liebe zur Landschaft, die ihn angezogen hatte. Hierbehalten hat ihn die Liebe zu einer Frau. Mittlerweile haben sie zwei Kinder und leben in Reykjavik. Und immer wieder in ihrem Sommerhaus im Hvalfjörður, dem Walfjord, mit Blick auf Meer und Berge.
«Nein, zurück in die Schweiz werde ich nicht mehr ziehen. Ich bin angekommen, bin hier zu Hause.» Er zieht eine Packung Dörrfisch aus dem Rucksack. Der Snack sieht aus wie Chips, riecht aber streng nach Fisch. Er kaut genüsslich, ich lehne dankend ab.
Dass er in Island angekommen ist, zeigt sich auch in seinem Schreiben. «Kalmann» wurde nicht nur ins Arabische und Italienische übersetzt, sondern auch ins Isländische. Eine besondere Genugtuung für den Bündner, sind die Isländer doch für ihre nicht eben offenherzige Art bekannt, wenn es um Literatur geht. Die lange Zeit abgeschiedene Insel besitzt eine grosse literarische Tradition, auf die die Isländerinnen und Isländer mit besonderem Stolz blicken.
«Jetzt haben wir zwei Möglichkeiten», sagt Schmidt: «Denselben Weg zurück. Oder oberhalb des Wasserfalls durch den Fluss und dann zum Parkplatz. Ich weiss nur nicht, wie es da oben aussieht.» Denselben Weg zurück? Für beide ist klar, dass das keine Option ist. Also weiter, hoch über den Glymur, wo der Blick über den ganzen Hvalfjörður reicht und hinaus auf die Endlosigkeit des Atlantiks.
Wir stehen am Ufer. Der Fluss ist hier breiter als bei der ersten Überquerung weiter unten, wo ein Seil die Passage erleichterte. Wir ziehen die Schuhe aus, krempeln die Hosenbeine hoch und stapfen hinein. Bald liegen 20 Meter Eiswasser vor mir, 20 Meter hinter mir. Jeder Schritt ist Schmerz. Doch zurück ist keine Option.