Der Webstuhl war ihre Staffelei

Lise Gujer an ihrem Webstuhl in Davos. (Foto: gta Archiv/ETH Zürich)

Lise Gujers Bildteppiche im Bündner Kunstmuseum
War sie nur Ernst Ludwig Kirchners Teppichweberin? Oder doch eine eigenständige Künstlerin? Das Bündner Kunstmuseum widmet sich Lise Gujer.
Text 
Julian Reich
Bilder 
Somedia Press AG/Livia Mauerhofer

30 Jahre lang schlummerten sie in einer Kartonbox, und als die Entwürfe, die Lise Gujer kurz vor ihrem Tod 1967 in eine versiegelte Schachtel gelegt hatte, endlich ausgepackt worden waren, gab es erst mal Stoff für Diskussionen. «Museum Chur», hatte sie auf den Deckel geschrieben, zu öffnen erst nach besagten 30 Jahren, damit niemand auf die Idee käme, ihre Webereien zu kopieren. Da Gujer als Kunsthandwerkerin galt, landete das Päckchen im Rätischen Museum. Als man es öffnete und erkannte, dass die Entwürfe, Schablonen, Vorlagen und Skizzen Ernst Ludwig Kirchners Handschrift trugen, zog man das Bündner Kunstmuseum hinzu. Es wurde gesichtet, restauriert, recherchiert – und die oft mit Fäden und Farbangaben versehenen Papiere dem Kunstmuseum überlassen. 2009 folgten eine erste Ausstellung und ein Katalog.

Gujer hatte bei ihrem Ableben nicht wissen können, dass es 30 Jahre später ein Kirchner Museum in Davos geben würde – hätte sie den Nachlass vielleicht lieber dort gewusst? Wir wissen es nicht. Ebenso wenig konnte Gujer wissen, dass in den 30 Jahren nach ihrem Tod noch ganz andere Fragen die Kunst bewegen würden, nämlich: Was ist ein Künstler, eine Künstlerin? Und wo waren eigentlich die Frauen die ganze Zeit?

Vorhang auf für Lise Gujer im Bündner Kunstmuseum.

Zwei Fragen, zwei Begegnungen

Beide Fragen – jene zur Autorschaft und jene zur Stellung der Frau in der Kunst – sind mit Lise Gujer zu einem gewissen Grad, aber nicht abschliessend zu beantworten. Es war 1922, als die 29-Jährige zwei Begegnungen machte: In einem Haus in Davos, wohin die aus Zürich stammende Asthmatikerin aus gesundheitlichen Gründen gezogen war, fand sie einen alten Webstuhl und begann, sich autodidaktisch den Umgang damit beizubringen. Zur selben Zeit lernte sie den Maler Ernst Ludwig Kirchner und seine Frau Erna kennen, die seit fünf Jahren im Landwassertal lebten. Kirchner war auf der Suche nach jemandem, der seine Ideen auf Textilien umsetzen konnte – und fragte Gujer, ob sie diese Person sei.

Mit den ersten Resultaten war der Künstler wenig zufrieden, so Stephan Kunz, Direktor des Bündner Kunstmuseums und Kurator der Ausstellung, die im August eröffnet worden ist. Kirchner fand die Farben zu flach, da war zu viel Grau. Grund dafür waren die Kettfäden, durch die die farbigen Fäden horizontal durchgeschossen werden. Gujer vergrösserte den Abstand zwischen den Kettfäden und gelangte zu Ergebnissen, die dem Künstler genügten.
16 Jahre, bis zu Kirchners Freitod, dauerte die Zusammenarbeit der beiden, und wer die Entwürfe genauer besieht, der erkennt zwar Kirchners Formen, Motive und Kompositionen, Köpfe, tanzende Figuren, bäuerliche Szenen. Aber man kommt auch nicht umhin, die Kommentare, Zusätze, Entscheidungen zu sehen, die Gujer zuzuschreiben sind.

Expressive Farbigkeit: Teppiche von Lise Gujer und Ernst Ludwig Kirchner.

Signiert mit «LG»

Kirchner war es, der noch zu Lebzeiten einige der Arbeiten an seine Sammler verkaufte, und zwar als eigene Werke. Als Kirchner verstarb, rührte Gujer den Webstuhl für über zehn Jahre nicht mehr an. Erst in den 50er-Jahren begann sie, nach den Vorlagen neue Teppiche zu weben, zuweilen sogar nach Gemälden Kirchners. Sah Kirchner noch jedes Stück als Einzelarbeit, nahm sich Gujer bald die Freiheit, bestimmte Motive in Variationen herzustellen, in Serien mit verschiedenen Farben und Details. Viele von ihnen konnte sie verkaufen, ja es gab sogar Bestellungen, die sie nicht mehr ausführen konnte, bevor sie 1967 in Davos starb. Die meisten dieser Teppiche sind mit «LG», also Lise Gujer, signiert, und Kunz sagt: «Diese heute noch als Werke von Ernst Ludwig Kirchner auszustellen, ist falsch.»

Die Entwürfe für die Bildteppiche sind heute Teil der Sammlung des Bündner Kunst­museums.

«Die Künstlerin Lise Gujer»

Endgültig rekonstruieren wird man wohl nie können, wer wie viel Anteil an einem Werk hatte. Und auch, ob Kirchners Malerei von den gewobenen Flächen beeinflusst worden ist oder ob es sich umgekehrt verhält. Dass aber die Ausführung der Weberei ganz in der Hand Gujers lag, ist unzweifelhaft. Kirchner soll selbst, wie Kurator Kunz erklärt, gesagt haben: die Weberei sei «ganz Sache der Künstlerin Lise Gujer». Gujer selbst war offenbar eine lebenslustige, auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die sich auch von körperlichen Einschränkungen nicht behindern liess. 

Autorschaft ist heute ohnehin ein brüchiges Konzept, und gerade die Weberei mit ihrer Verwandtschaft von Textil und Text bietet sich an, darüber nachzudenken, in welcher Beziehung Urheber/in und Ausführende zueinander stehen.

Am besten meditiert man über diese Fragen bei einem Gang durch die Ausstellung, die auch die zweite oben aufgeführte Frage berührt. Nämlich wo die Frauen geblieben sind. Gujer galt als Kunstgewerblerin, eine Zuschreibung, die für viele weibliche Kreative früher wie heute einem Ausschluss aus dem Kunstdiskurs gleichkommt. Allzu leicht wurden (und werden) Frauen, die sich nicht in die klassischen Schablonen pressen lassen, ins kunsthandwerkliche, ja dekorative verschoben und damit gleichsam unsichtbar gemacht. Bezeichnend ist die Anekdote von Stephan Kunz, die sich während der Recherche zur Ausstellung ereignete. So habe er bei einem Museum, von dem er mit Sicherheit wusste, dass es einen Bildteppich besitzt, eine entsprechende Leihanfrage platziert. Doch erhielt er den Bescheid, von Lise Gujer befände sich nichts in der Sammlung. Erst als sich herausstellte, dass der Teppich unter «Kirchner» und nicht unter «Gujer» katalogisiert worden war, löste sich das Rätsel auf. 

Heutige Inszenierung

Den Anspruch der Ausstellung, eine verkannte Künstlerin aufs museale Podest zu heben, war es auch, was das Zürcher Gestalterinnen-Duo Kueng Caputo zur Mitarbeit bewog, wie Lovis Caputo an der Presseführung erklärte. Kunz hatte sie angefragt, ob sie nicht die Gujer-Ausstellung mit zeitgenössischen Mitteln inszenieren wollten. Nun hängen und spannen sich verschiedenfarbige Kunststoffnetze durch die Ausstellung, die normalerweise im Bauwesen verwendet werden. Die feingliedrige Massenware erinnert auch daran, wie zeitintensiv die Gujer Weberei gewesen war. Für viele Stücke benötigte sie bis zu einem Jahr oder mehr.

Die Intervention von Kueng Caputo ist unaufdringlich, schafft einen heutigen Rahmen für die ausgestellten Werke, Entwürfe, Dokumente und Fotos. Sogar Gujers Webstuhl, quasi ihre Staffelei, fand Platz. Denn, wie die Ausstellung selbst im Titel sagt, war Gujers Schaffen für Kirchner auch «eine neue Art zu ­malen.»

Weitere Infos
Textile Forschung

Die im Bündner Kunstmuseum zu sehende Schau «Lise Gujer. Eine neue Art zu malen» versammelt eine Vielzahl der in verschiedenen Museen und privaten Sammlungen liegenden Bildteppiche von Lise Gujer und Ernst Ludwig Kirchner. Das Kunstmuseum hat nun gemeinsam mit der Abegg-Stiftung ein Forschungsprojekt gestartet für eine technologische Untersuchung der Werke. Die Abegg-Stiftung hat sich dem Sammeln, Erhalten und Erforschen von historischen Textilien verschrieben und gilt als Kompetenzzentrum im Bereich Textilien. Unter anderem werden die Materialien und Farben untersucht, die Lise Gujer in den Jahren ihres Schaffens verwendete. Die Resultate sind noch nicht spruchreif, weshalb der Katalog zur Ausstellung erst zum Ende der Ausstellung hin zu erwarten ist.

Ausstellung bis 17. November 2024