Ein Logo, das Anspruch und Ambition zugleich ist

Die Valposchiavo im Aufwind
Das Projekt «100 % Valposchiavo» gilt als vorbildliche Initiative für die regionale Entwicklung in der Schweiz. Drei Beispiele zeigen, wie man auch abseits der Zentren bestehen kann.
Text und Bilder 
Julian Reich

Ein wenig Wind weht eigentlich immer durch die Valposchiavo, mal schwächer, mal stärker, und es gab Zeiten, in denen zog es die Puschlaverinnen und Puschlaver mit dem Wind in die Ferne. In den Süden als Zuckerbäcker zum Beispiel, als Glückssucher nach Übersee oder nördlich über den Berninapass ins Engadin, um dort ein Auskommen im Tourismus zu finden. Die Abwanderung war und ist ein Motiv im Leben dieses Tals, und viele, die einmal weggezogen sind, kehren nicht zurück. Andere aber tun es, und vielleicht, die Anzeichen sind da, künftig sogar wieder mehr. 

Das hat auch mit einer Idee zu tun, die vor mehr als zehn Jahren entstanden ist. Nach der Ernennung der Berninabahn zum Unesco-Kulturerbe erhielt auch die umliegende Landschaft mehr Aufmerksamkeit. Die Valposchiavo ist auf ihrem gesamten Gebiet, vom Bernina Hospiz (2338 m ü. M.) bis zum Grenzdorf Campocologno (535 m ü. M.), und auf 25 Kilometern Länge Teil des Unesco-Perimeters. Doch das Welterbe-Etikett allein würde wohl nicht reichen, sagte man sich. Die Herausforderung: Im Süden grenzt man ans Veltlin, fruchtbar und billig, im Norden locken Arbeitsplätze, die im 5000 Menschen fassenden Tal nicht vorhanden sind. «Man war sich bewusst, dass wir auf der Preisebene nicht konkurrieren können», sagt Francesco Vassella. Er ist Regionalentwickler der Region Bernina und Geschäftsführer des Projekts zur Regionalen Entwicklung (PRE) «100 % (bio) Valposchiavo», das seit 2020 in der Umsetzung ist.

«100 %Valposchiavo» ist vieles zugleich: ein Projekt zur Regionalen Entwicklung, das von Bund und Kanton gefördert wird, ein Logo, das auf Produkte geklebt wird – und die Ambition, aus den im Tal vorhandenen Ressourcen das Beste herauszuholen. Beim Besuch von drei Betrieben zeigt sich, wie das vor sich gehen soll.

Anspruch und Einzelfall

Zunächst aber zum Gütesiegel, das in der Valposchiavo allerorten anzutreffen ist, im Hotel, im Restaurant, im Laden, in der Metzgerei. Die Definition lautet gemäss Charta: «Ein Produkt kann mit dem Logo «100 %Valposchiavo» ausgezeichnet werden, wenn das Produkt selbst (im Falle von Rohstoffen wie Milch, Fleisch, Früchte und Gemüse etc.) oder all seine Bestandteile (im Fall von zusammengesetzten Produkten wie Wurstwaren, Joghurt, Backwaren etc.) aus der Valposchiavo stammen.» Das Produkt oder all seine Bestandteile müssen aus der Valposchiavo stammen – ein hoher Anspruch. Nur, Ansprüche sind das eine, der Einzelfall ist etwas anderes. 
Wir treffen Silvio Rossi in Prada, wenige Minuten ausserhalb von Poschiavo. Mit seiner Frau Manuela bewirtschaftet er hier einen Bauernhof, mit Schafen hat es angefangen, später kamen Mutterkühe und Schweine dazu. Und in diesem Jahr ist auf dem Hof ein Neubau entstanden, der rund 1000 Hühnern ein Dach über dem Kopf bietet. Nach Biorichtlinien werden hier Eier produziert, und die Beiträge durch das Projekt «100 % (bio) Valposchiavo» waren eine willkommene Hilfe. Das «bio» ist ein Zusatz, der ein Teilprojekt innerhalb des PRE-Projekts «100 % (bio) Valposchiavo» kennzeichnet. Schon heute werden über 90 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen in der Valposchiavo biozertifiziert bewirtschaftet, ein schweizweit selten hoher Prozentsatz. Der Anteil soll in den nächsten Jahren auf 100 Prozent ansteigen. 
 

Eine Eierproduktion in der Grössenordnung von 1000 Tieren gab es im Tal bislang nicht. Rossi rechnet sich gute Chancen aus, damit eine Lücke zu füllen. Zumal in den Restaurants und Hotels im Tal, aber auch im Engadin, zumindest saisonal grosse Mengen benötigt werden. Er hofft auch auf andere Kanäle, etwa die Grossverteiler in der Region. «Das werden wir sehen», sagt Rossi. Bei unserem Rundgang ist es erst drei Wochen her, seit die Hühner aus dem Luzernischen ins Tal gebracht worden sind und die gesamte Apparatur für die ­Eiersammlung aufgebaut ist. Vollautomatisiert gelangt das Ei vom Legeplatz über ein Förderband zur Sortiermaschine, wo es leicht gereinigt und nach Gewicht sortiert wird. Die Feinreinigung und -prüfung von möglicherweise beschädigten Eiern muss aber von Hand geschehen. 

Stahltanks im Morgenlicht

Rossis Eier werden das Label «100 % Valpos­chiavo» tragen – auch wenn die Hühner und ihr Futter von auswärts eingekauft werden. Doch die Richtlinien sind damit eingehalten. Etwas komplizierter sieht es bei der Bierbrauerei Pacifich aus, die gerade einen neuen Standort in Poschiavo eingerichtet hat. Hier zeigt sich, wie schwer es ist, die hohen Standards des Labels zu erfüllen – und dass diese vielleicht wieder einmal diskutiert werden sollten, wie Francesco Vassella zugibt. 

Wir treffen Luca Battilana, Gianni Semadeni, Alice Raselli und Rachele Semadeni Dorsa an der Via S. Bartolomeo, mitten im Dorf. Gerade sind sie dabei, die neue Brauerei einzurichten. Noch vor Kurzem war hier eine Schlosserei untergebracht, nun strahlen Stahltanks im Morgenlicht, während sich die Leitungen von den Brau- zu den Gärtanks an der Decke verstecken. Gegründet wurde die Brauerei als Hobby 2015 von Ueli Schläpfer an einem anderen Standort, vor zwei Jahren übernahmen Luca Battilana und Alice Raselli den Betrieb, seit diesem Jahr sind auch Gianni und Rachele Semadeni Teil des Teams. Zwei junge Familien also, die darauf setzen, mit eigenem Bier ein Auskommen zu finden. «Früher fuhren Gianni und Luca täglich ins Engadin zur Arbeit», erzählt Alice Raselli, «jetzt sind wir alle gemeinsam hier tätig.» Offenbar mit Erfolg, hat ihr Bier doch bereits eine Auszeichnung im Rahmen des Swiss Beer Awards erhalten. Nicht erst seit diesem Zeitpunkt aber haben die vier Bierunternehmer ein Problem: Die Nachfrage übersteigt die Produktion bei Weitem, auch wenn mit der Birraria Poschiavina unterdessen sogar eine zweite Brauerei im Tal ansässig geworden ist.

Bereits jetzt haben sie zwölf verschiedene Biere im Sortiment, einigee davon sind jedoch nur saisonal erhältlich, etwas die mit einheimischen Gewürzen Kräutern und Blüten hergestellten Sorten. Ob es jedoch dereinst ein «100 % Valposchiavo»-Bier geben wird, ist ungewiss. Zwar gibt es unterdessen auch Braugerste und Hopfen aus dem Tal  – mit beidem experimentieren die BrauerInnen derzeit –  womit vielleicht einmal alle Zutaten aus dem Tal stammen. Jedoch für das Mälzen, sprich das Herstellen von Gerstenmalz, fehlt vor Ort die Infrastruktur.

Die vier Mitarbeiter der Brauerei Pacifich: Luca Battilana (oben links), Gianni Semadeni, Alice Raselli (Mitte) und Rachele Sema­deni Dorsa.

Überzeugung statt Label

Dennoch trägt die Brauerei den  Grundgedanken der lokalen Herstellung mit. «Unser Ziel ist es, dass irgendwann alle unsere Zutaten hier im Tal entste- hen», sagt Alice Raselli. Wo die Rohware nicht im Tal beschafft werden kann, gibt es im Rahmen von «100 %Valposchiavo» eine andere Möglichkeit: Das Zertifikat «Fait sü in Valposchiavo» für Produkte, die im Tal hergestellt werden, deren Zutaten aber nicht alle von hier stammen. «Die lokale Verarbeitung und die Wertschöpfung im Tal ist uns in jedem Fall ein wichtiges Anliegen, wenn dann noch das Label dazu kommen würde, wäre es einfach schöner», sagt Rachele Semadeni.

Bio-Salami aus der Nähe: Michele Branchi ist Metzger in Brusio.

Überzeugung ist es auch, was Michele Branchi antreibt. Der Metzger aus Brusio baut dieser Tage ebenfalls aus: Die Schlachtanlage wird vergrössert. Mit ausladenden Gesten erzählt er, wie er seinen Beruf versteht. Wichtig sind ihm kurze Wege: Ein Schlachttier muss selten länger als eine halbe Stunde fahren, bis es bei ihm ankommt, wo es dann so schnell wie möglich getötet und weiterverarbeitet wird. Während in industriellen Betrieben alle Abläufe auf Effizienz – das heisst vor allem Geschwindigkeit – getrimmt sind, erhält das Fleisch bei ihm nach der Schlachtung die nötige Zeit, um auszureifen. So entstehen seine Salami und Salametti, Rohschinken, Pancetta, Coppa und Slinziga – und zwar alles nach Biorichtlinien. Neben dem Patron arbeiten zwei weitere Angestellte im Betrieb, je nach Saison, gerade während der Jagd, sogar noch einer mehr. Angefangen hat der Betrieb vor rund 15 Jahren, Branchis Eltern hatten eine kleine Metzgerei, die er übernahm und stetig vergrösserte.

Mit Branchi lässt sich gut über den Mentalitäswandel im Tal sprechen. Die Initiative «100 % Valposchiavo» sieht er als einzige Möglichkeit, im Tal Wertschöpfung zu erhalten – auch wenn das die vorherige Generation vielleicht nicht immer so sieht und lieber so weiter machen würde, wie man es seit jeher getan hat. «Natürlich ist es viel Arbeit, natürlich muss man sich anstrengen, aber es ist möglich, hier ein Auskommen zu finden», sagt er. Damit stehen die Aussichten gut, dass sich die Einheimischen künftig nicht nur vom Wind fort-, sondern auch wieder zurückbringen lassen.

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