Im östlichsten Zipfel der Schweiz

Die Biosfera Val Müstair
Gleich auf zwei UNESCO-Auszeichnungen darf die Val Müstair stolz sein. Zum einen ist der Naturpark Biosfera Val Müstair Teil des einzigen hochalpinen UNESCO-Biosphärenreservats der Schweiz, zum anderen gehört das UNESCO-Welterbe-Kloster St. Johann in Müstair in den Parkperimeter. Die Macher hinter den Park-Kulissen und die Einheimischen ruhen sich deswegen aber noch lange nicht auf den Lorbeeren aus.
Text 
Maya Höneisen
Bilder 
zVg

In der Geschäftsstelle der Biosfera Val Müstair in Tschierv war man Anfang dieses Jahres glücklich. Am 8. Januar hatte die Gemeindeversammlung über die weitere Zukunft des Naturparks zu entscheiden. Die rund 280 Einheimischen stimmten der Weiterführung zu. Das Label war für weitere zehn Jahre gesichert. Für den Naturpark heisst das: den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Nämlich, für eine nachhaltige Entwicklung in den Bereichen Natur, Wirtschaft und Gesellschaft einzustehen.

 

Kulturgut reaktivieren

Wer Naturpark hört, denkt zunächst einmal an Naturschutz. Dass dieser der Biosfera Val Müstair ein wichtiges An­liegen ist, versteht sich von selbst. Das bestätigt Thorsten Frohn, Leiter Marketing und Kommunikation der Bio­sfera Val Müstair. «Wir wollen die Kulturlandschaft aufwerten, zum Beispiel mit der Restaurierung von Trockenmauern», erklärt er. Wichtig ist ihm auch die Artenvielfalt. «Der Felsenfalter existiert schweizweit nur in der Val Müstair und im Jura und gehört zu den seltensten Schmetterlingen Europas», weiss er. Er brauche eine lichte Vegetation. In einem Projekt würden deshalb Weiden regelmässig entbuscht, um seinen Lebensraum zu schützen.

Eine Besonderheit der Val Müstair war das Flurbewässerungssystem, die sogenannten Auals. Bis vor einigen Jahrzehnten war es für die Landwirtschaft von existenzieller Bedeutung. Gemeinsam mit der Gemeinde Val Müstair, dem Tourismus, der Denkmalpflege Graubünden und der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz wurde 2005 das Projekt «Auals illa Val Müstair» lanciert. Heute sind einzelne Auals als wichtiges Kulturgut und als Beitrag für die Biodiversität wieder reaktiviert.

 

Wertschöpfung im Tal behalten

Bei der Entwicklung von touristischen Angeboten unterstützen die Leistungsträger im Tal die Biosfera Val Müstair innerhalb von Partnerschaftsvereinbarungen. So konnte im letzten Jahr der «GenussTrail» – eine kulinarische Schatzsuche – mit Produkten aus dem Tal lanciert werden. Käse, Salsiz, die typischen Münstertaler Schaibiettas oder auch Val Müstairer Weizenbier durfte der Gast an den verschiedenen Genussstationen degustieren.

Für Schulklassen wurde von der Bio­sfera ein Bildungsprogramm erarbeitet. Das Angebot komme bei Schulen aus der ganzen Schweiz sehr gut an, erklärt Frohn. «Wildtierbeobachtungen, Arbeitseinsätze oder auch Mini-Sprachkurse werden gut gebucht.»

 

Mit Strom unterwegs

Natürlich ist auch die E-Mobilität ein Thema in der Biosfera Val Müstair. «Die Förderung der nachhaltigen Mobilität gehört zu den erklärten Zielen der Biosfera Val Müstair», betont Frohn. Seit April 2019 steht Gästen und Einheimischen bei der Geschäftsstelle des Naturparks in Tschierv ein E-Auto zur Verfügung. Im letzten Sommer stellte die Biosfera zudem mehreren Hotels im Tal je zwei E-Bikes zur Verfügung. Mit Erfolg, einerseits wurden sie von den Gästen sehr geschätzt, zum anderen werden die Betriebe nun eigene Bikes für ihre Gäste erwerben. Seit Anfang dieses Jahres sind übrigens vier Hotels im Tal als Naturpark-Partnerbetriebe mit dem eigenen Label zertifiziert. Weitere werden dazukommen, ist Frohn überzeugt. Er denkt bereits darüber ­hinaus. Ihm schwebt die Ausweitung der Zertifizierung auf Gewerbe und kulturelle Institutionen, wie zum Beispiel die Handweberei Tessanda in Sta. Maria vor.

Viele der im Tal produzierten Produkte von einheimischen Produzenten tragen bereits das Produktlabel des Parks, so etwa Milch- und Milchprodukte, Mehl, Backwaren und andere Getreideprodukte sowie auch Fleisch und Fleisch­erzeugnisse. Laut Frohn müssen sie mindestens 80 Prozent regionale Zutaten enthalten und ²∕3 der Wertschöpfung muss in der Region erbracht sein. Um dies zu garantieren, werden sie von einer unabhängigen Kontroll- und Zertifizierungsstelle alle zwei Jahre kontrolliert und zertifiziert. Sind alle Vorgaben erfüllt, werden sie mit dem Produktlabel des Naturparks ausgezeichnet, welches das Gütesiegel «regio.garantie» trägt.

 

Regionales hochprozentig

Nur ein paar Häuser entfernt von der Geschäftsstelle der Biosfera Val Müstair in Tschierv betreiben Gisella und Luciano Beretta eine im Jahr 1792 im Tessin gegründete «Antica Distilleria». Sie sind nicht ganz unschuldig an der Idee der Biosfera, künftig auch Getränke zu zertifizieren. Seit dem Jahr 2008 brennen sie in Tschierv Destillate und Liköre, die Namen tragen wie Tamangur, Grand Alpin oder Val Müstair. Angefangen hat Luciano Beretta in Tschierv mit Kastanien aus dem Bergell, er hat daraus Destillate und Kastanienwhisky hergestellt. «Der kam gut an», erinnert sich der Brenner. Inzwischen sind diese Produkte zwar wieder aus dem Angebot gestrichen, entstanden sind aber andere. In einer Glasvitrine in der Manufaktur stehen die verschiedensten Destillate in Reih und Glied. Alpiner Hochgebirgs-Arvenzapfen-Likör, Goldmelisse in Gran-Alpin-Destillat, Heublumenlikör und so weiter. Die einen sind von goldener Farbe, andere durchsichtig. Die Rohstoffe liefert grösstenteils die Val Müstair. Allerdings sind die Produkte limitiert, da die Ressourcen im Tal und die Kapazitäten der «Antica Distilleria» beschränkt sind. «Kunden müssen also auch einmal warten. Dafür ist dann auch alles echt», erklärt Luciano Beretta.

Die Rezepturen für ihre Destillate und Liköre entwickeln Gisella und Luciano Beretta selbst. «Jeder von uns greift seine eigenen Ideen auf, die dann schliesslich meist dieselben sind», wirft Gisella ein. Eine ideale Zusammenarbeit. Bisher sind denn auch rund 50 solcher Eigenkreationen entstanden. 36 davon wurden mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. «Das macht die Natur, die wir hier haben», geben sich die beiden bescheiden. Gross werden wollen sie nicht, auch wenn ihre hochwertigen Spirituosen schon längst in den besten Hotels ihre Liebhaber gefunden haben. «Wir sind regional und bleiben regional», ist sich der inzwischen 69-Jährige sicher.

Diese Regionalität und die Qualität ­passen natürlich perfekt zur Biosfera ­Val Müstair. Lange wird es also wohl kaum mehr dauern, bis die Berettas auch zertifizierte Produkte der Biosfera Val Müstair haben.

 

Weitere Infos

UNESCO im Doppelpack

Der Perimeter des Naturparks umfasst das gesamte Gebiet der Gemeinde Val Müstair. Sie ist auch die Trägerschaft des Parks. Die strategische Steuerung erfolgt durch die Biosferakommission, welche aus maximal 14 Vertretern aus verschiedenen Interessengruppen besteht. Die operative Leitung des Parks liegt bei der Geschäftsführung. Für die Zertifizierung von Produkten und Dienstleistungen ist die Labelkommission zuständig. Zusammen mit dem Schweizerischen Nationalpark und mit Teilen der Gemeinde Scuol bildet die Val Müstair das UNESCO-
Biosphärenreservat Engiadina Val Mü­stair. Zudem beherbergt der Park das UNESCO-Welterbe-Kloster St. Johann in Müstair.

Fläche 199 km2
Höchster Punkt Piz Murtaröl
Einwohner 1500
Parkgemeinde Val Müstair mit den Fraktionen Tschierv, Lü, Fuldera, Valchava, Sta. Maria und Müstair, daneben gehört das unbesiedelte Val Mora zum Park­gebiet. Das Val Nüglia ist zudem Teil des Schweizerischen Nationalparks.

Kasten 2

Handgewobene Tradition

Mit einem mutigen Schritt gründeten die Ramoscher Weblehrerin Floriana Andry, die Handarbeitslehrerin Fida Lori und der Dorfpfarrer Rudolf Filli im Jahr 1928 die Handweberei Tessanda in Sta. Maria, um den Münstertalerinnen eine Arbeitsstelle und die Möglichkeit einer anerkannten Fachausbildung als Handweberinnen zu bieten. Die erste Leiterin der Tessanda war Fida Lori. Mit ihrem idealistischen Gedankengut und mit viel Mut, Ideen und Durchsetzungskraft hat sie die Tessanda nachhaltig geprägt. Nach erfolgreichen Jahrzehnten bekam die Tessanda, wie alle anderen Handwebereien auch, die starke Konkurrenz von industriell hergestellten Textilien zu spüren. Nur wenige überlebten den Wandel. Nach der Jahrtausendwende hat das traditionelle Kunsthandwerk in den Industrieländern wieder generell an Beachtung und Wertschätzung gewonnen. Die Suche nach Produkten, die für Qualität, Nachhaltigkeit, Tradition und Sinnhaftigkeit stehen, hat zugenommen. Das kommt auch der Tessanda zugute. Heute ist sie eine von drei übrig gebliebenen professionellen Handwebereien der Schweiz und ein wichtiges Kulturgut der Val Müstair.