Kirchtürme (wie hier in Soglio) wie Berge gestalten die Landschaft – und in den Türmen erklingen zumeist Glocken. (Foto: Rolf Canal)
Während der Zeit der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden vor allem im Mittelland in besonders vielen Kirchen die bisherigen, oft historisch gewachsenen Geläute durch neue, nach damaligem Zeitgeschmack harmonischer klingende ersetzt. Obwohl in Graubünden zeitgleich ebenfalls Geläute ausgetauscht und bis in jüngster Zeit vor allem erweitert wurden, vermochte sich dieser Trend erfreulicher Weise hier nicht durchzusetzen. In den Südtälern, namentlich im Misox und im Bergell, hängen vor allem Glocken aus oberitalienischen Giessereien, währenddem im Münstertal und im Unterengadin auch solche von Tiroler Giessern anzutreffen sind. Eher im nördlichen Teil des Kantons sind Glocken von Feldkirchner und süddeutschen Meistern vorhanden. Diese unterschiedlichen Provenienzen haben zweifellos auch mit den früher oft beschwerlichen Transportwegen zu tun. Es traten aber auch Wandergiesser in Erscheinung. So wurden um 1770 gleich beide Zizerser Kirchengeläute vom aus Intra (I) kommenden Johannes Anton Peccorinus erschaffen. Diese Glocken versehen noch heute ihren Dienst.
Ein grosser, über die Jahrhunderte gewachsener Anteil dieser bronzenen Instrumente stammt jedoch aus dem Kanton selber. So ist in Graubünden über den Verlauf der Jahrhunderte die stattliche Zahl von 15 Giessern nachgewiesen. Letztere dieses Berufsstands waren die in Felsberg tätigen Brüder Peter und Michael Theus. Im Jahre 1898 erschufen sie das prachtvolle As-Dur-Geläute der Martinskirche Chur, dessen grosse Glocke mit knapp fünf Tonnen die schwerste Graubündens ist. Auch andere schweizerische Glockengiessereien statteten die Bündner Türme mit Glocken aus. Namentlich genannt seien die Werkstätten von Jakob Egger in Staad bei Rorschach, von Jakob Keller in Zürich, Unterstrass, sowie die heute noch tätige H. Rüetschi AG in Aarau. Je nach Alter und Herkunft unterscheiden sich die Glocken in der Form, im Aussehen und im Klang. Sie sind kostbare, oft filigran verzierte und beschriftete Zeugen früherer Zeiten, und meist verborgene, aber akustisch präsente Schätze. Auch hölzerne Glockenstühle und Glockenjoche sind oftmals Zeugen hochstehender alter Zimmermannskunst. Gerade diese Umstände verleihen den Glocken etwas Erhabenes und – wenn der hörende Mensch sich dafür empfänglich zeigt – etwas Unaussprechliches, das über unsere Wirklichkeit hinausweist.
Nachstehend werden vier Glockengeläute näher vorgestellt.
Seit jeher kam es vor, dass einzelne Glocken von einem Gotteshaus zu einem anderen übertragen wurden. Beispiele sind die Wanderungen einer Glocke von der Martinskirche Chur nach Sent oder von Praden nach Tschiertschen. Dass aber gleich ein ganzes Geläute in einen anderen Turm versetzt wird, ist sehr ungewöhnlich. Dies geschah 1953, als die Reformierte Kirchgemeinde Hinwil ZH ein neues, sehr schweres Geläute anschaffte. Die bisherigen vier Glocken, 1827 in der Giesserei Rosenlächer in Konstanz gegossen, kamen im gleichen Jahr auf den Turm der Kirche Davos Frauenkirch. Im anmutigen Chorturm, der mit einem behäbigen Spitzhelm bekrönt ist, hängt nun dieses ansehnliche D-Dur-Geläute. In seinem Akkord erklingen die ersten vier Töne des Kanons «Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang». So sind die Glockenklänge auch ein wenig Anklang zu den Tages- und Naturstimmungen im Landwassertal. Die Glocken sind mit bemerkenswerten Elementen aus Girlanden und Friesen geschmückt, was von einer hohen Kunstfertigkeit des Giessereibetriebs zeugt. So hat die kleine Glocke eine ganz besondere Zier. Harfe spielende Engel sitzen auf Blumengirlanden. Oberhalb dieser Girlanden läuft eine Rosenranke rund um die Glocke. Die grösste Glocke verkündet eine Inschrift, die für reformierte Kirchen beispielhaft war – sie ruft nämlich zum Gottesdienst. «Brüder! Christen! Kommt zusammen! Verherrlicht Gottes Namen.»
Die Glocken von Frauenkirch tragen einen besonders schönen, filigranen Schmuck.
Anzahl und Grösse der Glocken sind für eine Klosterkirche dieses Formats eher bescheiden. Vom Denkmalwert her ist das Geläute hingegen von grosser Bedeutung. Zusammen mit dem sehr interessant konstruierten hölzernen Glockenstuhl aus dem Jahre 1644 bildet es ein in sich ausgewogenes, eindrückliches Ganzes. Die beiden grossen Glocken wurden 1558 und 1665 von Kaspar Sermund von Bormio bzw. Jerg Schelener von Bozen erschaffen. Die beiden kleinen, von unbekannten Meistern stammenden Instrumente, gehen auf die Jahre 1505 bzw. 1504 zurück. Alle vier Glocken zusammen wiegen rund 2800 kg. Sie tragen Inschriften, die im ausgehenden Mittelalter weit verbreitet waren und zum Teil auch auf neueren Glocken anzutreffen sind. Die zweitkleinste Stimme verkündet den Gruss des Engels an Maria gemäss dem Lukasevangelium: «Ave Maria gracia plena dominus tecum» (Gegrüsset seist du Maria, der Herr sei mit dir). Auf der kleinsten Stimme prangt: «O rex glorie veni nobis cum pace» (O König der Herrlichkeit, komm zu uns mit Frieden). Das Beten für den Frieden ist etwas, das viele Menschen über Zeitepochen und Generationen verbindet – gut, wenn die Glocken dieses Beten in uns wachhalten.
Der hoch aufragende, weit über das Prättigau blickende Turm birgt ein interessantes dreistimmiges Geläute. Die grosse und die kleine Glocke sind ein Werk von Jakob Egger in Staad und wurden 1911 erschaffen. Die mittlere, etwa 600 kg wiegende Glocke ist die historisch wertvollste. Auf ihr ist zu lesen: «Der Ehr Gotes hat mich Rageth Mathis gegosen Canon und Glocken Giesser Burger in Chur 1778.» Glockengiesser waren in aller Regel zugleich Kanonengiesser, was von den Zweckbestimmungen her betrachtet ein unglaublicher Widerspruch ist. Da aus dem gleichen Material hergestellt, kamen diese Kriegsgeräte aus der gleichen Hand wie Glocken, die seit jeher stark mit dem Frieden und dessen Botschaft in Verbindung gebracht wurden, auch durch entsprechende Inschriften. Wie weitere Orte des Prättigaus, pflegt die Kirchgemeinde Saas eine Läuteordnung, die wegen der teils grossen Differenziertheit eine eigentliche Glockensprache verkörpert. Am Silvesterabend wird das alte Jahr während einer Stunde, d. h. von 22 bis 23 Uhr verabschiedet. Nach dem Mitternachtsschlag begrüssen die Glocken das neue Jahr ebenfalls während einer Stunde, also bis um 1 Uhr. Am Tag eines Beerdigungsgottesdienstes erklingt morgens von 8 bis 8.30 Uhr das «Schiedläuten». Wobei beim Hinschied eines Mannes die grosse Glocke während den ersten und letzten fünf Minuten alleine läutet. Beim Hinschied einer Frau wird in der gleichen Weise verfahren, jedoch mit der mittleren Glocke. In ähnlichen Abstufungen wird das Läuten zur Abdankungsfeier vollzogen, wobei in diesem Falle noch ein weiteres Zeichen hinzukommt. Dieses ist das kurze Schweigen der grossen Glocke bei verstorbenen Männern bzw. der mittleren Glocke bei verstorbenen Frauen im Augenblick, da sich der Leichenzug der Kirche nähert.
Der Saaser Glockenstuhl im Modell. Hauptsächlich angefertigt durch den dortigen Mesmer. (Foto: Claudio Godenzi)
Das Geläute der Pfarrkirche Vals kann zu den grossen Graubündens gezählt werden. Die sechs Glocken bilden in den Tönen b° / d' / f' / g' / b' / c'' einen sogenannt «ausgefüllten und erweiterten B-Dur-Akkord». Zur Vielstimmigkeit kommt der Umstand hinzu, dass sich das heutige Geläute aus Glocken von drei verschiedenen Giessern unterschiedlicher Zeitepochen zusammensetzt. Dieser Umstand verleiht dem Gesamtgeläute zusätzlich Ausdruck, Farbe und Spannung. Vier Glocken, darunter auch die grosse, stammen aus den Jahren 1963 und 1964. Sie wurden von Emil Eschmann in Rickenbach TG gegossen. Dieser Betrieb bestand in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts während rund 25 Jahren. Die drittgrösste Stimme stammt vom Wandergiesser Nicolas Besson. Um die zweitgrösste Glocke rankt sich die Geschichte des 1832 geborenen Walsers Georg Berni. Im Kindesalter bereits als Kuhhirte nach Schwaben verdingt, wanderte er später in die Vereinigten Staaten aus. Nach einer längeren Odyssee gelang es ihm, sich dort als Farmer zu etablieren und damit zu Wohlstand zu kommen. Er verstarb 1915 in Columbus. Bei seinem zweiten Besuch im Heimatdorf im Jahre 1889 beauftragte er die Gemeinde, auf seine Kosten eine Glocke giessen zu lassen. Diese wurde 1890 bei den Gebrüdern Theus in Felsberg hergestellt und ist im heutigen Geläute die zweittiefste Stimme. Nebst einer religiösen Inschrift ist auch eine Widmung an Georg Berni eingegossen.
Die legendäre Glocke des Georg Berni in Vals. (Foto: Claudio Godenzi)