Das Haus «In den Lärchen» war Kirchners erster Wohnsitz in Davos Frauenkirch. (Foto: Galerie Kornfeld)
Ernst Ludwig Kirchner ist wohl einer der bedeutendsten Künstler des deutschen Expressionismus, der jahrelang in Dresden und danach in Berlin wohnte. Während des Ersten Weltkriegs – an dem er als Freiwilliger teilnahm – fiel er in eine Depression und wurde drogenabhängig (zunächst Veronal, danach Morphin). Ende des Jahres 1916 liess er sich in einer Berliner Privatklinik behandeln, die Resultate waren allerdings bescheiden. Kirchner reiste aufgrund einer Empfehlung des Arztes Eberhard Grisebach aus Jena – dessen Ehefrau Ebba eine Tochter des Davoser Arztes Alexander Spengler war, im Januar 1917 erstmals nach Davos und stieg da in der «Pension Pravigan» ab – gleich vis-à-vis der Praxis des berühmten Arztes Alexander Spengler und seinem Sohn Lucius. Alexander Spengler war in Deutschland ein aufmüpfiger Mann – ein Kommentar zu ihm: «Ein steckbrieflich gesuchter Radikaler war dieser Spengler, ein militanter deutscher Vaterlandsverräter, Hungerleider obendrein, der sich nach dem endgültigen Scheitern der europäischen Demokratiebewegung 1849 nur mit knapper Not über die Grenze retten konnte … das war der Mann, der den Höhenluftkurort Davos begründen sollte.» Kirchner erhielt regelmässigen Besuch der Schwiegertochter von Spengler, die in teils amüsanten Notizen festhält: «Er behauptet, er habe eine Geschwulst im Hirn, ich rede es ihm aus, halte es jedoch für wahrscheinlich. Doch eher ist bei ihm eine Schraube los …» Ziel der Reise nach Davos war ein erneuter Versuch einer Entziehungskur (darauf wird zurückzukommen sein).
Gestaltungsentwurf für die Eingangshalle des Hauses «In den Lärchen». (Bild: Kirchner Museum Davos)
Im April 1917 verlässt Kirchner Davos wieder, reist nach Berlin und entschliesst sich darauf zu einem Klinikaufenthalt in Kreuzlingen, danach zieht es ihn wieder nach Davos. Im Sommer 1918 lebt er auf der Stafelalp, wo viele eindrückliche Holzschnitte seiner Nachbarn auf den Alpen entstehen. Für den Winter nach der Alpzeit mietet sich Kirchner das Haus «In den Lärchen» in Frauenkirch, wo er letztlich bis im Herbst 1923 bleibt. Er gestaltet das Haus zusehends nach seinen Vorstellungen um und entdeckt die Leidenschaft für Holzskulpturen. Er gestaltet ein neues Türportal (diese befindet sich heute im Museum in Stuttgart), er schnitzt Stühle, ein Bett und einen Spiegel für seine Frau Erna, aber auch Alltagsgegenstände wie Kaffeemühlen oder Briefkassetten. Mit der Besitzerfamilie des Hauses – einer Familie Müller – hatte er ein enges Verhältnis, es entstanden sowohl Holzschnitte der sechs Kinder wie auch Fotografien – es ist ja bekannt, das Kirchner ein begeisterter Fotograf war … Um seine Holzschnitte selber drucken zu können, liess er extra aus Berlin und Dresden seine eigene Druckerpresse nach Frauenkirch liefern.
Haus «In den Lärchen», Öl auf Leinwand, 1818–1820. (Bild: Privatbesitz)
Die Besitzerfamilie Müller macht angesichts der sechs Kinder im Herbst Selbstanspruch geltend, worauf Kirchner – da er überzeugt ist, in Davos bleiben zu wollen – eine neue Unterkunft suchen muss. Auf dem Wildboden, eingangs des Sertigtals, wurden die Kirchners mit dem «Wildbodenhaus» – fündig, beide blieben in ihrem neuen Wohnort bis zu ihrem Tod (Ernst Ludwig 1938, Erna 1945). Kirchner schreibt zum neuen Aufenthaltsort in sein Tagebuch: «Unser neues Häuschen ist ei-
ne wahre Freude für uns. Wir werden da gut hausen und in grosser Ordnung. Dies soll wirklich ein Wendepunkt in meinem Leben werden. Alles muss in übersichtliche Ordnung gebracht erden und das Häuschen so einfach und schlicht wie nur möglich ausgestattet sein, aber schön und intim.» Die Tatsache, dass beide Kirchners bis zu ihrem Tod im «Wildbodenhaus» geblieben sind, spricht dafür.
Nach dem Suizid Kirchners 1938 (aus Anlass seiner Empörung um die Kulturpolitik des Naziregimes) und dem Tod seiner Frau Erna wurde das Wildbodenhaus geräumt. Ein Teil des Inventars – namentlich die Möbel – übernahm die Textilkünstlerin Lisa Gujer, die nach Kirchners Motiven viele Wandteppiche realisiert hatte, der restliche Teil des Nachlasses gelangte dank der Intervention des damaligen Direktors Georg Schmidt ins Kunstmuseum Basel und wurde dort inventarisiert: 550 Gemälde, 23 Plastiken, Dutzende von Skizzenbüchern und Tausende von Aquarellen, Zeichnungen und Unmengen an Grafikblättern wurden da erfasst.
Das Wildbodenhaus in einer Zeichnung von Kirchner. (Bild: Galerie Kornfeld)
Beide ehemaligen Wohnorte von Ernst Ludwig Kirchner – das Haus «In den Lärchen» und das «Wildbodenhaus» – wurden dank der Initiative des Kunsthändlers und Auktionators Eberhard W. Kornfeld Anfang der 60er-Jahre gekauft und soweit möglich in den Originalzustand versetzt. Süffisantes Detail zu diesen Renovationsarbeiten: In beiden Häusern wurden bei der Ersetzung der Plumpsklos Morphin-Ampullen gefunden – so erfolgreich war die Entziehungskur also doch nicht!
Kornfeld ist neben der Familie Kette-
rer einer der profundesten Kenner des Werks von Kirchner, der auch eine grosse Monografie zu Kirchners Schaffen in Davos publiziert hat. Daneben ist Kornfeld einer der grossen Giacometti-Spezialisten und hat eben den zweibändigen «Catalogue raisonné» über das grafische Werk von Alberto Giacometti publiziert. Sein Engagement für Kirchner ist primär ein privates. Er wollte mit dem Kauf der beiden Häuser primär ein Zeichen für die Bedeutung Kirchners für die Region Davos setzen. Mit dem Kauf und der Renovation der beiden Kirchner Häuser hat er bereits Anfang der 60er-Jahre erste Gedenkstätten für den Künstler geschaffen, lange bevor die Idee für ein Kirchner Museum geboren wurde, das dann 1992 durch die Zürcher Architekten Gigon & Gujer realisiert wurde und heute ein erfolgreiches Zentrum für die Darstellung der Arbeiten Kirchners ist.
Die Häuser, in denen Kirchner in seiner Davoser Zeit gelebt und gearbeitet hat, sind heute aufwendig renoviert. Darin befinden sich viele Arbeiten des Künstlers, die aber heute primär privaten Zwecken vorbehalten sind. Das «Wildbodenhaus» dient als Gästehaus für Freunde und Angestellte des Auktionshauses, das Haus «In den Lärchen» ist Kornfelds Privathaus – aber wer Kornfeld kennt, findet stets eine offene Türe.