Gion Antoni Derungs, Komponist von über 400 Werken
Bei Susi Derungs in Chur stapeln sich die Kopien auf dem Wohnzimmerboden. «Die grossen Werke habe ich inzwischen gemacht», sagt sie, meint damit die Opern und Sinfonien und wirft einen Blick auf das Cembalo, an welchem ihr Mann, Gion Antoni Derungs, Tag für Tag sass. «Oft ging er im Fürstenwald spazieren, wo in der Ruhe der Natur seine Werke entstanden», erzählt sie weiter. «Wenn er zurückkam, brachte er sie aufs Notenblatt.»
Seit zwei Jahren arbeitet Susi Derungs bereits an der Inventarisierung seines Werks. Die Originale plus eine Kopie gehen an die Kantonsbibliothek. Eine zusätzliche Kopie behält sie bei sich, damit sie diese selbst an interessierte Dirigenten ausleihen kann. «Tonnen von Papier», sagt sie, als sei sie selber erstaunt über den Umfang der Arbeit ihres Mannes. «Früher haben wir alles zusammen gemacht», sagt sie leise. Nach seinem Tod habe sie die grosse Verantwortung über dieses Erbe erst belastet, fährt sie einen Augenblick später fort. Heute sehe sie die Aufgabe der Inventarisierung seines Nachlasses als sein persönliches Geschenk an sie.
Inzwischen sind etwas über 200 Kompositionen als Originale im Archiv der Kantonsbibliothek in Chur. Ob das Material dereinst digitalisiert wird, ist im Moment noch ungewiss, dürfte gemäss Angaben der Bibliotheksleiterin, Petronella Däscher, aber zu einem späteren Zeitpunkt gut möglich sein. Susi Derungs indes schätzt, dass sie noch weitere eineinhalb Jahre brauchen werde, bis der immense Umfang des gesamten Werks geordnet ist.
1935 geboren und vaterlos – sein Vater starb, als der Sohn kaum eineinhalb Jahre alt war – in Vella aufgewachsen, zeigte Gion Antoni Derungs schon früh Freude an der Musik. Sein Lehrer an der Klosterschule Disentis, Giusep Huonder, erkannte die Begabung und ermunterte seinen Schüler, sich an seinen eigenen Onkel, Duri Sialm, in Chur zu wenden. Nach der Matura studierte Derungs am Konservatorium in Zürich Klavier, Orgel, Schulgesang, Dirigieren und Partiturspiel. Ab 1962 unterrichtete er am Lehrerseminar in Chur und wurde Organist an der Kathedrale in Chur. Zudem leitete er sein selbst gegründetes Quartett und die romanischen Chöre. Ende der Sechzigerjahre komponierte er sowohl sein erstes Violin- als auch sein erstes Klavierkonzert, 1971 folgte die «1. Sinfonia, Opus 37». Über 400 Werke schuf er in den weiteren Jahren.
1986 schrieb Derungs mit «Il cerchel magic» die erste rätoromanische Oper überhaupt. Der Regisseur, Gian Gianotti, erinnert sich an die damalige kulturelle Situation im Kanton Graubünden: «Musiktheater war vor Gion Antoni Derungs undenkbar. Mit einer tiefen Ernsthaftigkeit und einer starken künstlerischen Herangehensweise hat er die Volkstümlichkeit in die Professionalität übernommen und Voraussetzungen für das heutige Musiktheater geschaffen.»
Eine grosse Freundschaft und eine enge Zusammenarbeit verbanden den Komponisten über viele Jahre mit Giovanni Netzer. Nebst zahlreichen anderen Kom-
positionen für das Origen-Kulturfestival schrieb er bereits 1998 «König Balthasar» für den Intendanten. Sein szenisches Oratorium «Apocalypse» hob 2005 das Festival mit aus der Taufe. Im Jahr darauf eröffnete die Oper «Benjamin» die Origen-Theaterburg. Auf die Frage, wie denn Gion Antoni Derungs als Mensch gewesen sei, antwortet Netzer mit einem Schmunzeln: «Er war ein lustiger Mensch, einer mit einem ganz speziellen Humor.»
Uraufführung der Oper "il semiader" 1996 im Theater Chur
Der Dirigent Clau Scherrer spricht die grosse Affinität zur geistlichen Musik und zum rätoromanischen Volkslied von Derungs an. Dem Volkslied habe
er in seinen Kompositionen eine neue Identität gegeben, erklärt er. Für Scherrer gab es zwei Komponisten Derungs: vokal einen unglaublich feinfühligen, stark romanischen mit von Ravels Klangwelt inspirierten französischen Farben. Instrumental, Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre, einen Expressionisten, der im Stil experimentell war. Später sei Derungs wieder zur Tonalität zurückgekehrt und habe sich in seiner letzten Complet, Anfang 2014 uraufgeführt im Kloster St. Johann in der Val Müstair anlässlich des Origen-Karlsjahrs, ganz mit ihr versöhnt, erinnert er sich.
Eine konkrete Einreihung von Derungs in die Musikgeschichte fällt Scherrer allerdings schwer. Arnold Spescha, langjähriger Freund des Komponisten, schreibt ihm Einflüsse von Strawinsky und Schostakowitsch als auch von Schweizer Komponisten wie Willy Burkhard und Paul Müller zu. In den 60er-Jahren habe er sich auch mit der Avantgarde der damaligen Zeit auseinandergesetzt, wie etwa Ligeti und Lutoslawski, ein Phänomen, das in manchen Kompositionen Spuren hinterlassen habe, so Spescha. Für ihn war er aber auch ein konsequenter Mensch, der immer seinen eigenen kompositorischen Weg gegangen und sich treu geblieben sei, «ein tiefgründiger Mensch mit einer unglaublichen Menschlichkeit». Einer, der ohne Unterschied für jeden Dirigenten komponiert hat, der mit einem Anliegen auf ihn zukam. Und für Scherrer ist eines klar: «Gion Antoni Derungs hat die Rätoromanen in die kompositorische Moderne geführt.»
Gion Antoni Derungs mit dem Librettisten und Autor verschiedener Liedtexte