Blick in einen Ausstellungsraum der Casa d’Angel. (Foto: Ida Sgier)
Da ist er also, der Wolf, und wir fragen uns, was tun. Sieben Wolfsrudel durchstreifen aktuell den Kanton Graubünden, gleich zwei davon sind in der Surselva heimisch, das Stagias- und das Val-Gronda-Rudel. Immer wieder hört man von Sichtungen nahe der Dörfer, von Rissen von Nutztieren auch, von verärgerten Bauern und verängstigten Kindern. Der Wolf ist wieder da. Und er bewegt die Gemüter wie eh und je.
Er kam uns Menschen schon einmal in die Quere, damals, als wir uns lossagten vom Jagen und Sammeln und sesshaft wurden. Bis anhin war man ja auf die gleiche Beute aus gewesen, beide jagten wir dasselbe Wild, von dem es genug für alle gab. Doch dann bauten wir Häuser und Ställe und machten aus den Wildtieren Eigentum in der Gestalt von Ziegen und Kühen. Damit wurden sie zu leichter Beute für den Wolf. Und dieser, weil er nicht anders konnte, wurde zum Räuber.
Im Mittelalter dann hatten wir den Wolf fast ganz zurückgedrängt. Als der Adel auch im Wald sein Herrschaftsrecht durchsetzte und das Wild genüsslich dezimierte, litt der Wolf an fehlendem Futter. Zu dieser Zeit entstanden jene Geschichten, die heute noch unser Bild vom bösen Wolf prägen: Rotkäppchen natürlich, das von einem lüsternen Wolf mit Haut und Haaren verschlungene Unschuldslamm, und die sieben Geisslein, die fast alle auf den listigen Räuber hereinfallen.
Die gemeinsame Geschichte von Wolf und Mensch ist lang und ambivalent. So galt der Wolf nicht immer nur als bösartig, sondern säugte der Legende nach auch die römischen Stadtgründer Remus und Romulus gross. Und er wurde qua Domestizierung zum besten Freund des Menschen – zum Hof- und Schosshund.
Plötzlich aktuell
Im 19. Jahrhundert galt der Wolf als ausgerottet. Nun aber ist er wieder da, ganz als er selbst. Er durchstreift unsere unterdessen dicht besiedelten Landschaften, und wenn es schlecht läuft, verliert er die Furcht und sucht sich seinen Weg durch die Dörfer und Städte. In diesem Winter wurde einer sogar in Chur gesichtet.
In diese neue Aktualität hinein wirft das Kulturhaus Casa d’Angel in Lumbrein, im Streifgebiet des Val-Gronda-Rudels gelegen, einen künstlerischen Blick. «Der Wolf im Visier der Kunst» heisst die Ausstellung, die seit Sommer letzten Jahres in den Räumen des Ausstellungshauses zu sehen ist. Kuratiert wurde die Schau von Gabriele Lutz, der in Zürich und der Val Medel lebenden Kunsthistorikerin, die vor zwei Jahren schon in einem anderen Seitental eine künstlerisch hochstehende Schau realisierte. Damals ging es um Vehlandschaften in St. Antönien, nun also um den Wolf in der Val Lumnezia.
Selbstredend ist der Wolf schon seit jeher Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung. Diesen Bogen schlägt die Ausstellung auf platzsparende Weise: Ein Projektor, der von Manuel Caminada gestaltet wurde und an einen Hochsitz erinnert, wirft Abbildungen an die Wand aus vielen Jahrhunderten Kunstgeschichte, darunter ein Kapitel am Grossmünster Zürich aus dem 13. Jahrhundert, ein Ölgemälde von Rubens, das die Jagd auf Wolf und Fuchs zeigt, und eine Skulptur der römischen Mutterwölfin.
Das Rudel in der Stube
Realen Platz räumt man hingegen zeitgenössischen Positionen ein. Da ist etwa ein von Rochus Lussi geschaffenes Wolfsrudel in der holzgetäferten Stube. Der Stanser Bildhauer und Performer hat eine neunteilige Gruppe von Wölfen aus Pappelholz geschnitzt, jedes Exemplar mit eigener, ausdrucksstarker Mimik und Gestik – mal im Kampf, im Spiel oder ruhend. Der Wolf ist in die warme, gute Stube eingedrungen. Diese allzu naheliegende Assoziation bricht Lussi, indem er zur Halbzeit der Ausstellung eine Reihe von Holzstäben zwischen, an und um die Tiere gestellt hat, die an Speere oder Schlagstöcke erinnern. Das zuvor selbstbewusste, bedrohliche Rudel wird durch diese Setzung wiederum selbst zum Bedrohten, ja Geschundenen. Wer Aggressor ist und wer Opfer, wechselt je nach Perspektive.
Dieses Changieren zwischen den Optiken ist ein Grundmodus der Ausstellung. Es gehe ihr nicht darum, Partei zu ergreifen für oder gegen den Wolf, sagt Kuratorin Lutz. Vielmehr ist es ja gerade das Vermögen der Kunst, Sachverhalte mehrschichtig, mehrdeutig darzustellen. Oder auch berückend schön. Wie Michael Günzburgers «Wolf», eine Lithografie von 2014. Der Künstler konnte damals den Körper des ersten in Graubünden geschossenen Wolfs durch ein kompliziertes Verfahren auf Papier abbilden. Das Blatt hat eine geradezu zeichnerische Qualität, jedes feine Härchen ist zu erkennen, aber auch die Einschusslöcher des todbringenden Schrots. Ein Leichentuch gewissermassen, der Wolf all seiner Bedrohung entmachtet, entledigt und vielleicht auch erlöst.
In einem Limbus gefangen hingegen ist Mirko Baselgias «Lupus». Das Video zeigt einen in einem Zoo gehaltenen Wolf, der Käfig ist karg und klein, das Tier bewegt sich nervös hin und her. Die von Verdis Gefangenenchor unterlegten Bilder sind ungemein beklemmend. Im selben Raum finden wir vom Amt für Jagd und Fischerei gemachte Aufnahmen des örtlichen Val-Gronda-Rudels, also Bilder vom anderen Ende des tierischen Freiheitsspektrums.
Der Ausstellung gelingt noch ein anderer Bogenschlag: Vom Hyperlokalen zum Internationalen. In einem Raum stossen wir auf Ausgaben des vom Lugnezer Schriftsteller Toni Halter verfassten Jugendromans «Culan da Crestaulta» über einen Jungen, der es mit einem Wolfsrudel aufnimmt. Alois Carigiet fertigte damals Holzschnitte für dem Umschlag an. In einem anderen Raum sind zwei Werke von Outi Heiskanen und Janne Laine zu sehen. Heiskanen gilt in ihrer Heimat Finnland als eine der wichtigsten zeitgenössischen Künstlerinnen. In ihrer Zusammenarbeit mit Janne Laine entstehen mystisch aufgeladene, vielschichtige Landschaften, in denen sich Figuren wie Menschen und Tiere – darunter Wölfe – bewegen.
Weitere Arbeiten stammen von Klodin Erb, Gerber/Bardill, huber.huber, Irma Ineichen, Barbara Jäggi, Rachel Lumsden, Christoph Maurer, J. E. Ridinger, David Shrigley, J. J. Sperli d. Ä., Tobias Stimme, Sandro Livio Straube und Judit Villiger. Im Zusammenspiel ergibt sich ein sehenswertes Ensemble an künstlerischen Perspektiven auf den Wolf und unser Verhältnis zu ihm. Mit der Ausstellung zeigt die peripher gelegene Casa d’Angel einmal mehr, wie ein lokales Thema auf geschickte Weise mit universalen Fragen verbunden und wie der Diskurs über ein gerade für die einheimische Bevölkerung brennendes Thema kulturell angereichert werden kann.