Grosse Formate: Meist werden die «Woodcuts» grossformatig gedruckt.
Manchmal sind Dinge, die kinderleicht klingen, die schwersten. Ratgeberliteratur füllt ganze Bibliotheken damit, wie man den Blick eines Kindes wiedererlangen könnte, wenn alles neu ist und staunenswert und magisch. Diesen Blick irgendwann zu verlieren, scheint der Preis für das Erwachsenwerden zu sein.
Andreas Urscheler ist jemand, dem das nie passiert ist. Erwachsen geworden ist zwar auch er, das liess sich nicht aufhalten, aber den Blick für das Staunenswerte vor der eigenen Nase ist ihm nicht verloren gegangen. «Ich muss nicht nach Island reisen, um zu fotografieren, ich finde um mich herum genug, das sich lohnt», sagt er. Oder, in den Worten des grossen Magnum-Fotografen Ernst Haas: «I am not interested in shooting new things – I am interested to see things new.»
Der Stall, mit dem alles begann: Andreas Urschelers Idee für die «Woodcuts» entstand auf einer Wanderung bei Davos.
Nicht neue Dinge sehen, sondern die Dinge neu sehen: Diese Maxime trug Urscheler vielleicht im Hinterkopf, als er mit den Schneeschuhen zur Alp Drusatscha oberhalb des Wolfgangpasses stapfte, Februar 2011 war das. Irgendwo stiessen er und seine Frau auf einen alten Stall, eingestürztes Dach, schiefe Balken, durch die kahle Büsche ihre Äste durch strecken. Urscheler sah sich die Holzkonstruktion genauer an, und sein Blick blieb hängen an den Enden der Eckverbindungen. Ein Schnitt durch einen Baum, vor vielen Jahren gefällt, die Jahrringe hervorgekehrt, seither der Witterung ausgesetzt, ein zweites Leben nach dem ersten – ein Bild, das ihn faszinierte. «Jeder Querschnitt ist anders, hat eine eigene Geschichte und ist ein Individuum auf seine Weise», erkannte Urscheler.
Seither fotografiert er ebensolche Endstücke, «Woodcuts» nennt er sie, was eigentlich Holzschnitt bedeutet und nicht ganz richtig ist, aber irgendwie eben doch. Als Künstler darf er sich solche Bedeutungsdehnungen leisten.
Das dritte Leben: Ein «Woodcut» von Andreas Urscheler.
Ein erstes Leben als Baum, ein zweites als Baumaterial, und fortan ein drittes: als grossformatige Fotografie, aufgenommen mit einer hochauflösenden ALPA-Mittelformatkamera, gedruckt auf hochwertigem Papier und in Holz gerahmt. «Das erinnerte mich an das Buch ‹Three Lives› von Gertrude Stein», sagt Urscheler. Und spannt so einen weiten Bedeutungsbogen auf.
Fotograf war Urscheler nicht immer, und auch heute ist er es nicht ausschliesslich. Aufgewachsen ist er in Davos und Zürich, alle wichtigen Ereignisse seines Lebens, die ersten Schritte, Schwimmen, Skifahren, habe er in Graubünden erlernt, sagt er. Er studierte Germanistik und Anglistik, promovierte über mittelalterliche Literatur, arbeitete als Assistent an der Universität, heute unterrichtet er Englisch an einer Berufsmaturitätsschule und lektoriert Bücher. Viele Standbeine, aber das kommt nicht von ungefähr: «Mich interessiert vieles. Und wenn mich etwas packt, dann tauche ich tief hinein.»
Die Fotografie begleitete ihn schon seit jeher, auch das begann in Davos, doch zum Beruf wurde sie ihm lange nicht. Mit den «Woodcuts» wagte er sich sachte in den Kunstbetrieb vor, zuerst mit einer kleineren Ausstellung im Geschäft einer Bekannten. Als er zum ersten Mal ein Bild an jemanden verkaufte, der nicht zu seinem Freundeskreis gehörte, spürte er, dass es etwas werden könnte mit den «Woodcuts». Er sprach bei Galerien vor und wird heute von der Galerie Palü in Pontresina vertreten. Auch beim Modern Design Möbelgeschäft Casty in Davos sind seine Arbeiten zu sehen. Aber als Dekobilder möchte er seine Drucke nicht verstanden wissen – dafür ist die Geschichte zu gut, die er zu erzählen hat.
Stille Zeitzeugen: Holzställe erinnern an vergangene Wirtschaftsformen.
Für Urscheler sind es nicht einfach nur schöne Formen und Farben, die man sich an die Wand hängen kann. Seine Bilder sind vielmehr ein Resonanzraum für eine Vielzahl von Themen: den Kreislauf des Lebens, das Entstehen und Vergehen, die Spuren der Zeit, die Jahre, die vergehen, Ringe zeichnen; später dann die Verwendung als Speicher für Heu und Vieh, der Überlebenskampf der Bergbauern und ihrer Familien und schliesslich das Ende einer Wirtschaftsweise, deren Spuren aber noch sichtbar sind. «Die meisten Ställe, die ich besuche, sind nicht mehr in Gebrauch und verfallen», sagt Urscheler. Er betrachtet dies mit ambivalenten Gefühlen. Zwar billigt er den Spychern ihren wohlverdienten Schlaf zu, zugleich engagiert er sich in einem Verein zur Erhaltung alter Walserställe, damit sie zumindest teilweise erhalten bleiben.
Konserviert werden sie auch gewissermassen auf seinen Fotos. War zuvor Wachstum und dann Verwitterung, sind seine Drucke so gefertigt, dass sie ein möglichst langes Leben zeitigen werden. Auch wenn, wie jedes Naturprodukt, auch dieses Papier irgendwann ausbleicht.
Andreas Urscheler bei Probeaufnahmen der Mauritiusquelle in St. Moritz.
Die Würde des Alters ist es, was Urscheler bewegt. Wenig überraschend, dass ihn eine Holzkonstruktion fasziniert, die älter ist als alles, was wir sonst gemeinhin antreffen. Im letzten Winter gelang es ihm, die bronzezeitliche Quellfassung der St. Moritzer Mauritiusquelle zu fotografieren, gebilligt und gefördert von der Gemeinde. Die Lärchenstämme wurden vor 3500 Jahren geschlagen und schon damals zur Fassung des heilbringenden Wassers von St. Moritz verwendet. Seit wenigen Jahren ist die um 1900 geborgene Konstruktion im Forum Paracelsus ausgestellt. Urscheler plant, auch daraus eine Serie zu kreieren.
Und noch ein anderes Projekt beschäftigt Urscheler derzeit: Er fotografiert die Schiffsanlegestellen am Zürichsee, an dem er wohnt. Bei Dämmerung oder in der Nacht stellt er seine Kamera auf und sammelt darin das Licht, das noch übrig ist vom Tag oder von den an- und ablegenden Schiffen, die oft nur noch abstrakte Spuren hinterlassen. Weit muss er eben nicht gehen, um etwas zu finden, über das sich staunen lässt.