Aus der Finsternis ans Licht: RhB-Mitarbeiter Duri Valentin auf Streckenkontrolle.
Als Duri Valentin in Preda aus dem Zug steigt, wartet Claudia Martinez Riano in Chur auf Grün. Es ist 8.30 Uhr, und irgendwo auf der Strecke steckt ein Zug fest, weshalb die Lokführerin ihren Bernina-Express noch nicht anfahren lassen kann. Duri Valentin weiss nichts davon, muss er auch nicht. Er stellt seinen wasserdichten Rucksack auf einer Rampe des alten Bahnhofgebäudes ab, nimmt ein Notizbuch hervor und wählt die Nummer der Betriebszentrale in Landquart.
Das Streckennetz der RhB umfasst 385 000 Meter, und zu fast jeder Uhrzeit an jedem Tag geschehen darauf tausend Dinge gleichzeitig. Während sich Streckenkontrolleur Duri Valentin beispielsweise auf den Weg macht, um die Strecke von Preda nach Bergün abzulaufen, sollte Claudia Martinez Riano den ersten Bernina-Express des Tages von Chur über den Albula führen. Sollte. Doch noch immer steht der Zug auf den Gleisen. Und niemand weiss recht, was nun ist: Warten? Oder doch die Lok umhängen und über den Vereina ins Engadin fahren? Die Lokführerin schaltet die Zugdurchsage ein und hört zu, was die Zugbegleiterin den Fahrgästen erzählt. Mehr weiss sie selbst auch nicht. Wir warten also, genauso wie die Rangierarbeiter, die sich auf dem Perron einfinden.
Im Führerstand durchs Welterbe: Lokführerin Claudia Martinez Riano.
Nicht lange hält sich Valentin auf der Baustelle von Preda auf. Seine Aufgabe heute ist eine andere. Zu Fuss und mit offenen Augen geht er die 12,5 Kilometer Schienen bis Bergün ab, um neue Schäden zu entdecken, bekannte zu beobachten und sie zu dokumentieren. Alle zwei Wochen wird jeder Schienenkilometer der RhB kontrolliert, auf dem ganzen Netz ist immer jemand unterwegs.
Wenige Hundert Meter von der letzten Weiche entfernt zeigt Valentin auf eine raue Stelle auf dem Gleis. Schleifspuren der Zugräder, wenn dieser anfahren muss und ins Spulen kommt. «Muss man beobachten», sagt er.
Valentin ist ganz in Signalorange gekleidet. Hinter seiner Sonnenbrille verstecken sich geübte Augen, auch die Ohren hat er gespitzt. Das ist wichtig. Denn obwohl er den Fahrplan auswendig kennt, regelmässig mit der Betriebszentrale in Kontakt steht und die Strecke sperren lässt, wenn wir auf den Schienen gehen – manche Dinge erkennt man besser mit den Ohren als mit den Augen. Die Gleise summen anders, je nach Zugskomposition, ob von oben oder von unten, ob Stahlschwellen darunter liegen, solche aus Beton oder aus Holz.
Jetzt beispielsweise summen sie. Wir stellen uns neben den Schotter, und von unten rauscht wie angekündigt der Schnellzug heran, der Chur vor einer Stunde verlassen hat. Valentin hebt die Hand zum Gruss, wie er es noch viele Male tun wird an diesem Tag.
Die Rangierarbeiter neben Claudia Martinez Rianos Lok stehen noch immer ratlos auf dem Perron. Zeit für Witze. Einer erzählt von einem notorisch verspäteten Zug aus Frankreich, den ein Bekannter von ihm einmal an der Grenze übernehmen sollte. Als der Zug pünktlich auf die Minute eintraf, gratulierte er dem Lokführer. Doch der meinte nur: «Das ist der von gestern.»
«Hauptsache das Datum stimmt», sagt Claudia Martinez Riano. Humor sei wichtig, wenn man es mit einem Betrieb zu tun hat, der zwar auf Pünktlichkeit getrimmt ist wie die RhB, bei dem aber so unzählige Räder ineinandergreifen müssen, damit alles reibungslos funktioniert. Was es eben nicht immer tut.
Dann kommt die Meldung von der Betriebszentrale. Wir fahren über den Albula, die Lokführerin ist erleichtert, über das Prättigau hätte die Fahrt noch länger gedauert, und sie hat noch einen Anschlussdienst in St. Moritz.
Die Verspätung – mittlerweile rund 40 Minuten – aufzuholen wird nicht mehr möglich sein. «Jetzt werden wir immer mal wieder warten müssen, um die fahrplanmässigen Züge durchzulassen», sagt sie. Tatsächlich stehen wir später in Rhäzüns eine ganze Viertelstunde lang.
Duri Valentin wandert weiter. Hinein in den Zuondratunnel, den ersten von vier zwischen Preda und Muot, der kleinen Station mitten auf der Strecke. 535 Meter lang ist er, der oberste der drei Kreiskehrtunnel, für die die Strecke berühmt ist. Auch Valentin staunt beim Gedanken daran, dass die Ingenieure von damals den Mut hatten, die Strecke so anzulegen – immerhin sind Tunnel immer teuer und gefährlich zu bauen. Aber nur so konnte die Steigung tief gehalten werden, um den Betrieb einer Adhäsionsbahn zu ermöglichen – also um ohne Zahnräder auszukommen. 35 Promille beträgt die Steigung maximal.
Es ist stockfinster. Valentin leuchtet mit der Taschenlampe übers Trasse und an die Wände. Die alten Mauern sind dieselben wie bei der Eröffnung vor 120 Jahren. Natürlich nagt die Zeit daran, das Wasser schwemmt den Mörtel heraus, im Winter hängen Eiszapfen von der Decke, die Valentin und seine Kollegen mit langen Stäben runterschlagen. Dass die Tunnel und die Portale saniert werden müssen, ist allen klar – nur wie genau ist offenbar Gegenstand von Diskussionen mit dem Bundesamt für Kultur.
Mehr als die Hälfte der 115 Tunnel auf dem Streckennetz der RhB müssen aufgrund ihres Alters erneuert werden. Die RhB hat dafür ein neues, standardisiertes Instandsetzungsverfahren entwickelt, die sogenannte «Normalbauweise Tunnel». Bei dem neuen Bauverfahren werden die Wände der Tunnel komplett ersetzt und nicht mehr wie bisher «nur» wiederhergestellt. Dazu wird das Gleis abgesenkt, der Tunnelquerschnitt vergrössert, eine neue Entwässerung erstellt, Betonfertigelemente als Wände eingesetzt und die Portale neu erstellt. Die Erneuerung der Tunnel kann so bei laufendem Betrieb erfolgen. Oder eben Nacht für Nacht, wenn die Züge ruhen, die Gleisarbeiter aber nicht.
Claudia Martinez Riano fährt durch Cazis und erwähnt wie nebenbei: «Hier fährt man mit 90 km/h mitten durch ein Wohngebiet.» Sie sitzt im voll klimatisierten Führerstand, links und rechts die Hebel für Anfahrt, Geschwindigkeit und die Bremse, auf dem rechten ein Knopf, mit dem das Horn gepfiffen werden kann. Sie erklärt das Kurvensignal, das die erlaubte Geschwindigkeit, den Beginn und das Ende der Kurve signalisiert. Wir fahren mit einem der seit 2010 in der RhB-Flotte stehenden Allegra-Triebzüge, und so komfortabel die Fahrt ist – Martinez Riano gibt zu, dass ihr die alten Lokomotiven doch lieber sind. «Da kann man noch richtig hebeln», sagt sie. Seit neun Jahren ist sie Lokomotivführerin, zuletzt absolvierte sie daneben noch ein Studium als Applikationsentwicklerin, künftig will sie beide Berufe zugleich ausüben.
Es piepst, wie schon oft. Warum? «Das ist der Totmannschalter», erklärt die Lokführerin. Wenn sie für eine gewisse Dauer nicht die Füsse bewegt, leitet dieser eine automatische Bremsung ein. Eine Sicherungseinrichtung für den Fall, dass die Lokführerin eingeschlafen oder bewusstlos geworden sein sollte.
Martinez Riano ist eine von 15 Lokführerinnen der RhB. Zuletzt ist der Anteil gestiegen, aber eine Männerbastion ist die RhB noch immer. Am 31. Dezember 2022 waren 1721 Mitarbeitende bei der RhB angestellt. Der Frauenanteil lag bei 18 Prozent. Martinez Riano erzählt von einer Begegnung mit einer älteren Frau. Sie wäre gern auch Lokführerin geworden, aber das sei zu ihrer Zeit nicht möglich gewesen. «Zum Glück hat sich das geändert.»
Duri Valentin ist seit 16 Jahren bei der Rhätischen Bahn. Er war erst Rangierer, heute ist er beim Bahndienst. Abwechslungsreich sei das, und an jedem Arbeitstag ist er draussen. Mal bei der nächtlichen Reparatur eines Streckenstücks, mal bei der Gleismessung wegen eines Rutschgebiets wie in Brienz, mal auf Streckenkontrolle. Der Zuondratunnel liegt hinter uns, wir laufen über das Albula Viadukt IV, 44 Meter lang. Eigentlich müsste uns jetzt der Bernina-Express kreuzen.
Wir laufen weiter zur Maliera-Galerie, 220 Meter, dann über das Albula Viadukt III, 137 Meter. Valentin weist auf gute Orte hin, um die Züge zu fotografieren, «an diese Stellen kommt man normalerweise nicht», weiss er. Das Betreten des Trasses ist streng verboten – und oft gefährlich. Valentin steht auf eine Schiene und streckt einen Arm raus. Etwa so weit entfernt muss man stehen, um nicht vom Zug berührt respektive weggeschleudert zu werden. Zum Glück ist das Albula Viadukt III verbreitert worden, wir pressen uns trotzdem an das Geländer, als der Glacier-Express vorbeirauscht. Valentin hebt die Hand zum Gruss.
Lokführerin Martinez Riano ist jetzt auf der eigentlichen Welterbestrecke angekommen, die in Thusis beginnt. Sie fährt an Sils vorbei und dann in die Schynschlucht. Hier ist noch einer der wenigen unbewachten Bahnübergänge zu finden, ein Signal gibt an, dass die Lokführerin warnend zu pfeifen hat. Während die Strasse oben ständig saniert werden muss, weil sich der Fels bewegt, sei das Schienentrasse relativ stabil. «Die wussten eben schon, wo man bauen kann damals», sagt sie.
Vor uns tut sich plötzlich ein schwarzes Loch auf, in das wir mit hoher Geschwindigkeit einfahren. Erst einige Meter später erkennt man die Tunnelwände und die Scheinwerfer erleuchten das Geleise. In einen Tunnel fährt man eigentlich blind. Dann erzählt sie vom Albulatunnel, 5865 Meter lang, aber wenn man auf der Kuppe angelangt ist, sieht man vorn ein kleines helles Licht, ebenso wie im Rückspiegel. «Der Tunnel ist schnurgerade», sagt sie, zugleich anerkennend wie staunend.
In Solis stehen Gleisarbeiter am Trasse. Sie winken, Martinez Riano grüsst zurück. Nicht nur aus Höflichkeit: «Es ist auch ein Zeichen, dass man einander wahrgenommen hat.»
In Tiefencastel wartet eine ganze Reisegruppe auf den Bernina-Express, 60 Leute mindestens, schätzt Martinez Riano. Sie winken und jubeln, die Lokführerin seufzt kaum hörbar. Machen sich die Menschen als Gewicht beim Fahren bemerkbar? «Das nicht», sagt sie. «Aber beim Ein- und Aussteigen, da dauert ein Halt gleich länger.»
Wir fahren bald bei Brienz vorbei, wo oben der Berg rutscht und rutscht. Die Lokführerin zeigt auf schiefe Masten und aufgebrochene Hänge. Wegen des instabilen Bodens verbiegen sich die Geleise, und so muss man die Geschwindigkeit erst auf 40, dann auf 30 Stundenkilometer drosseln.
Weichenherz und Spannklemme: Das RhB-Schienennetz umfasst 385 Kilometer.
Schienenkunde mit Duri Valentin. Er erzählt von der Spannklemme, die die Schiene an der Schwelle befestigt, vom Schienenkopf, dem Schienensteg, dem Schienenfuss. Bei einer Weiche wird die Zunge umgelegt, um den Zug auf das gewünschte Gleis zu führen, und wo es abzweigt, liegt das Herz. Schienenkunde, das ist auch ein wenig Körperkunde.
60 Meter lang sind die Stahlschienen der RhB, dieselben, wie sie die SBB verwenden. Aber natürlich in Schmalspurbreite von einem Meter ausgelegt, alle 60 Zentimeter liegt eine Schwelle. 40 Jahre gibt man einer Schiene normalerweise als Lebensdauer. In Kurven sind sie schneller abgenutzt. Und Kurven gibt es viele auf dieser Strecke.
«Ich sperre bis eins zwo zwo vier», spricht Valentin jetzt ins Mobiltelefon, damit auf der anderen Seite klar ist, bis wann wir uns auf den Gleisen befinden werden. Valentin verzieht ein wenig das Gesicht: «Früher haben wir die Uhrzeiten normal gesprochen, aber das mussten wir von den SBB übernehmen. Wie so vieles.»
Das Landwasserviadukt kommt in Sicht, aus der Lokführerkabine erscheint es früher, grösser und höher als aus dem Abteil, und Martinez Riano drosselt die Geschwindigkeit wieder. «Wir haben die Anweisung, hier ein wenig langsamer zu fahren, aber nur, wenn wir keine Verspätung haben. Aber darauf kommt es heute auch nicht mehr an.» Die Leute hätten den Berninaexpress ja gebucht und bezahlt – da hätten sie auch das Recht dazu, sich die Landschaft genau anzuschauen.
Und schon sind wir wieder in der Schwärze des Tunnels.
Touatunnel, 557 Meter, Duri Valentin und ich gehen auf einer leichten Rechtskurve durch den Berg. Irgendwann ist vorn und hinten nur noch schwarz. Ob einem nie mulmig wird, allein im Dunkeln mitten im Fels? Valentin lacht und gibt die Frage zurück. Nun ja, ein wenig seltsam ist es schon, aber zu zweit ist man weniger allein.
Wenn Valentin von seinem Job erzählt, dann auch von Kameradschaft. Natürlich, zur Streckenkontrolle ist man allein unterwegs, aber sonst ist vieles Teamarbeit. «Wir sind die unsichtbaren Bahngeister», sagt er, zumal sie dann arbeiten, wenn keine Züge fahren, oftmals in der Nacht. Dabei sei es ein verantwortungsvoller Job, nicht nur bei der Streckenkontrolle, und um Baustellenzüge zu fahren, mache man eine ähnliche Ausbildung wie die Lokführer der Personenzüge. Aber zu wenig Personal hätten sie, wie viele Bereich bei der RhB. Kürzlich wurde bekannt, dass sogar einzelne Züge ausfallen mussten, weil nicht genug Lokführer im Einsatz standen.
Die Folgen des Personalmangels kennt auch Martinez Riano. Als sie das Lokführer-Pensum für ihre Weiterbildung reduzieren wollte, war das nicht gern gesehen. Aber letztlich doch möglich. «Das gehört ja dazu, wenn man attraktive Bedingungen für die Mitarbeitenden bieten will», meint sie. Unterdessen fahren wir in Bergün ein, im Bahnmuseum war Martinez Riano zwar noch nie, aber sie werde es nachholen. Jetzt folgt die geschwungene Linie durch den Godtunnel hoch nach Muot und dann: durch die Kreiskehrtunnel.
Duri Valentin ist oberhalb des Rugnuxtunnels angekommen, 661 Meter, im Innern hört man das Wasser rauschen, das aus dem Fels tritt. Es ist der dritte Kehrtunnel von oben und jener, in den Martinez Riano gleich einfahren wird. Von hier hat man eine schöne Sicht hinunter auf die Passstrasse, das Albula Viadukt I und die weitere Strecke nach Muot, von wo der Bernina-Express angekündigt ist. Und tatsächlich fährt just in diesem Moment ein Zug heran. Wir winken uns zu.