Zugegeben, wir haben ein wenig geschummelt: Klassischerweise gilt auch die Val Müstair als ein Bündner Südtal. Wir haben uns für die vorliegende Ausgabe der «Terra Grischuna» jedoch auf die italienischsprachigen Gebiete konzentriert. Auch, weil diese am ehesten als ein zusammengehörender Kulturraum betrachtet werden können. Vielleicht sind auch damit nicht alle Einwohnerinnen und Einwohner des Puschlavs, des Bergells, der Mesolcina und des Calancatals einverstanden. Aber schreiben heisst auswählen, so lautet schon die erste Lektion in der Publizistik. Wer sein Thema uferlos wählt, wird selbst die Orientierung verlieren.
Orientierung ist ohnehin ein Thema, das sich für die betroffenen Täler immer wieder aufdrängt. Das Puschlav und das Bergell sind beides ehemalige Durchgangstäler mit starkem Bezug zu einem nahen italienischen Zentrum, sei es Tirano hier oder Chiavenna dort. Und die Mesolcina gehört längst zum Einzugsgebiet der Tessiner Städte. Die steigenden Mietkosten und Einwohnerzahlen sprechen eine klare Sprache. Am oberen Ende liegt das Calancatal, das wir in dieser Ausgabe mit besonderem Augenmerk betrachten wollen.
Was die Täler alle verbindet, ist das über Jahrhunderte eingeübte Spiel der Anziehung des Ausserterritorialen und derjenigen des eigentlichen Kantonshauptortes Chur. Manchmal ist man weit weg von den kantonalen Büros, was vielleicht auch nicht immer schlecht sein mag. Eigentlich ist diese Ferne jedoch mehr eine mentale denn eine geografische. Denn fährt man als Deutschbündner wieder einmal ins Puschlav oder ins Calancatal, so ist es zwar eine Reise, aber doch auch keine Weltreise, den guten Strassen und Verkehrsverbindungen sei Dank. Und man ist wieder einmal überrascht, auf welch engem Raum hier vieles zusammenkommt. Um die Luft des Südens auf der Haut zu spüren, braucht es oft nur wenig mehr als eine Stunde Fahrzeit.
Wir sind also ausgezogen in die Italienisch sprechenden Bündner Südtäler und haben Geschichten zurückgebracht, über den ersten Naturpark südlich der Alpen beispielsweise, über den Bergsturz in Bondo und die Weine, die Bündner in Italien herstellen. Ich wünsche Ihnen viel Genuss beim Erkunden dieser Landschaften, ohne die Graubünden nicht wäre, was es ist.
Julian Reich
Redaktionsleiter