Es gab eine Zeit, da wollte ich Dachdecker werden. Nicht weil ich handwerklich besonders begabt wäre, im Gegenteil, und auch nicht, weil ich die verschiedenen Formen von Dächern und ihrer Bedeckung sonderlich interessant finden würde. Was mir gefiel, und das bestätigte sich auch in den drei Schnupperwochen, die ich absolvierte, war die Aussicht. Ich blickte hinunter auf die Köpfe der Menschen, hinüber auf andere Dächer, über sie hinweg auf die Berge. Als Dachdecker ist man den ganzen Arbeitstag über an einem Ort, an dem man sonst eigentlich nicht wäre, ja nicht sein sollte – Dächer sind nicht dafür gemacht, um sich dort aufzuhalten, sondern um den Regen, den Schnee, die Sonne abzuhalten.
Als Dachdeckerschnupperlehrling merkte ich: Die Höhe hat etwas Schönes, aber auch etwas Bedrohliches. Wer sich in die Höhe begibt, setzt sich Risiken aus. Denn hinunter kommt man immer, nur nicht immer unverletzt, wie mir meine Kumpanen sagten. Das wusste sicher schon Johann Coaz bei seiner Erstbesteigung des Piz Bernina im Jahr 1850. Der Mann war ja schon eine ziemliche Ausnahmeerscheinung. Erst als Kartograf, später als Forstinspektor, aber eben auch als Alpinist. Man stelle sich vor, einen Berg besteigen zu wollen, auf den vorher wohl noch nie jemand gestiegen war. Mehr Risiko, mehr Ungewissheit geht eigentlich nicht. Coaz und seine beiden Begleiter, die Brüder Tscharner, wagten es trotzdem.
Wo sind heute die Gipfel, die man noch besteigen könnte, die Orte, an die noch nie jemand zuvor gelangt ist? Es gibt sie nicht mehr, und wenn es sie noch gibt, so doch nicht mehr lange. Vom höchsten Berg der Welt, dem Mount Everest, bis zum tiefsten Tiefseegraben – der Mensch hat seine Spuren hinterlassen. Selbst die entlegensten Winkel der Erde sind kartografiert, fotografiert und von Abenteurern besucht worden. Es ist die alte Tragödie des Tourismus, dass er just das zerstört, was er doch zu suchen vorgibt: die unberührte, unbefleckte, ursprüngliche Natur. In einer Welt, in der jeder Quadratmeter per Satellit erfasst ist, müssen wir uns fragen: Was bedeutet «unberührt» noch? Vielleicht liegt die neue Herausforderung nicht mehr darin, neue Orte zu entdecken, sondern darin, bekannte Orte mit neuen Augen zu sehen. Und zu bewahren.
Der Dachdecker damals hätte mich übrigens gern als Lehrling genommen. Aber das ist schon recht so, sonst hätte ich mich vermutlich nie mit denselben Themen auseinandersetzen können, wie Sie sie in der neuen Ausgabe der «Terra Grischuna» finden: Vom SAC Rätia über die Flugpioniere im Engadin bis zu den Sternwarten in Graubünden. Und mit Herrn Coaz natürlich, dem ersten Menschen auf dem Piz Bernina. Ein beneidenswerter Herr.
Gute Lektüre wünscht
Julian Reich
Redaktionsleiter