Christian Rathgeb als Regierungsrat im Parlament. (Foto: Livia Mauerhofer)
Ich arbeite hier und bereite derzeit meine Vorlesung «Staatsleitung» vor, die ich ab Herbst im Masterstudiengang an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät halten werde. Bereits konnte ich ein Seminar bestreiten, Stellvertretungen machen und bin rund an einem Tag in der Woche hier.
Der Austausch mit den Studierenden hält auf jeden Fall geistig fit. Abgesehen davon, dass die Stundentafeln der heutigen Studierenden anders aussehen als damals, als ich die Universität besuchte, wird auch ganz anders gearbeitet. Die Studierenden sind viel vernetzter, haben Zugang zu enorm viel Information und es findet auch ein digitaler Austausch statt. Die junge Generation nehme ich als sehr motiviert, engagiert, kompetent und aufgeschlossen wahr. Es macht mir hier an der Uni Zürich enorm Spass.
Mit Konrektor Leo Schmid hatte ich an der Kantonsschule in Chur einen begeisternden Staatskundelehrer. Er hat in uns das Interesse an historischen Entwicklungslinien geweckt und uns für ein politisches Engagement motiviert. Wir besuchten mit ihm das Kantonsgericht, den Grossen Rat und eine Gemeindeverwaltung und beschäftigten uns intensiv mit historischen und aktuellen Themen. Das hat direkt dazu geführt, dass ich im Jahre 1986 mit Gleichgesinnten zusammen die Junge FDP Graubünden gegründet habe. Geprägt hat mich dann auch der damalige Regierungsrat Reto Mengiardi, der für mich ein grosses Vorbild war.
Das ist so. Es hat mich immer interessiert, wie unser Staatswesen zu dem geworden ist, was es heute ist, warum der Kanton so strukturiert und aufgebaut ist, wie wir ihn heute kennen. Diese Wurzeln liegen stark in der Helvetik, aber natürlich auch im Freistaat der Drei Bünde. Diese etwas mehr als 200 Jahre sind ein Zeitraum, der von den Generationen und der staatsrechtlichen Entwicklung her einigermassen noch überblickbar ist.
Sein letzter Tag als Exekutivpolitiker: Christian Rathgeb räumt Ende Dezemer 2022 sein Regierungsratsbüro. (Foto: Livia Mauerhofer)
Weil es unheimlich interessant ist und noch heute Bedeutung hat. Die Bündner Geschichte ist eine der spannendsten kantonalen Entwicklungen und mit keinem anderen Kanton vergleichbar. Die historische Entwicklung lehrt uns etwa, warum wir 39 so unterschiedliche Wahlkreise haben, die auf den früheren Kreisen respektive Gerichtsgemeinden beruhen. Graubünden ist eine Erfolgsgeschichte eines föderalen Staatswesens mit stark dezentraler Autonomie. Wenn wir an den staatsrechtlichen Grundlagen arbeiten und beispielsweise diskutieren, wie wir diese in Sachen Organisation, Gebietsgliederung oder Wahlsystem ausrichten möchten, ist es wichtig, die Herkunft der Normen zu kennen. Sodann können diese mit Mut und neuen Ideen weiterentwickelt werden. Gute staatsrechtliche Gestaltung, mit welcher sich die Bevölkerung identifiziert, erfolgt im Bewusstsein um Tradition und baut Kontinuitätsbrücken.
Der Einfluss war gross. Bereits mit meiner Dissertation durfte ich dies untersuchen und die Frage beantworten, wo unsere verfassungsrechtlichen Grundlagen herkommen. Der 1803 gestaltete Kanton bestand aus einem «Gemenge» von Recht, das einerseits aus dem Freistaat übernommen wurde, und andererseits aus neuem Aufklärungsrecht. Exemplarisch zu sehen ist dies in der Gebietsgliederung. Die früheren Kreise, die bis heute eine Bedeutung als Wahlkreise haben, sind eine Weiterentwicklung der Gerichtsgemeindesprengel, wie es sie während des Freistaats der Drei Bünde gab. Die früheren Bezirke und heutigen Regionen wiederum haben keinen Anknüpfungspunkt im Recht des Freistaats, sondern wurden uns in der Helvetik als Distrikte als völlig neues Recht französischen Vorbilds aufgezwungen. Dies zeigt beispielhaft, dass Recht aus dem Freistaat und Aufklärungsrecht zu einem System zusammengeflossen sind, das heute noch unseren Kanton prägt. Der Freistaat der Drei Bünde hatte 1798 nicht einfach aufgehört zu existieren. Meines Erachtens hat der Freistaat bis heute nicht nur verfassungsrechtliche Spuren hinterlassen, sondern auch im freiheitsliebenden Denken, Fühlen und Handeln der Bündnerinnen und Bündner, aber auch etwa im Umgang mit Minderheiten. Er ist – romantisch ausgedrückt – noch immer Teil unserer DNA!
Es ist auf jeden Fall festzustellen, dass in den Gemeinden heute noch ein besonders hohes Bewusstsein für Autonomie und ein Wille besteht, möglichst eigenständig Kompetenzen auszuüben. Dies zieht sich über 500 Jahre hindurch. Die Gerichtsgemeinden waren autonome Staaten, die bis hin zum Blutsgericht, also über Leben und Tod, selbst bestimmten. Graubünden hat heute noch die am stärksten ausgeprägte Gemeindeautonomie der Schweiz. Dazu haben viele Faktoren beigetragen. Sicher einmal die Topografie, die weitläufigen Räume mit teils abgeschiedenen Talschaften, in denen man selbst das Leben gestalten wollte und die drei Sprachkulturen. Auf Kantonsebene war es dann weiterhin so, dass die Gerichtsgemeinde entschieden und dann der Grosse Rat so organisiert wurde, dass alle Kreise einbezogen waren. Es gab also ein, zumindest im materiellen Verfassungsrecht verankertes Mitspracherecht für jeden noch so kleinen Kreis. Diesem Prinzip hat auch die letzte Wahlrechtsreform im Jahre 2021 Rechnung getragen. Die Bündner Verfassungsentwicklung ist geprägt von einem starken Föderalismus, Traditionswahrung und Kontinuität, Minderheitenschutz und -förderung, vor allem im Sprachenrecht, dem Demokratieprinzip und der Konsenssuche. Die verfassungsrechtlichen Leiprinzipien haben ihre Wurzeln, wenn auch unterschiedlich ausgeprägt, im Freistaat der Drei Bünde.
Die einheitsstaatliche Organisation in der Helvetik war ein klarer Bruch mit der Vergangenheit. Unter dem Diktat von Napoleon wurde damals die Staatsform brachial geändert. Rechtlich wurde dies zwar umgesetzt, in der Praxis aber kaum. Das Pendel ist mit der Kantonsgründung im Jahre 1803 wieder zurückgeschwungen. Dennoch betone ich gerne, die Helvetik sei die «Wiege des modernen Kantons Graubünden», auch wenn auf unrühmliche Weise von aussen aufgezwungen. Diese kurze Zeit hat den Weg hin zu einer stärkeren Einheit und einem modernen Kanton gewiesen, wie sie im Laufe des 19. Jahrhunderts schrittweise umgesetzt wurde.
Die mächtigen Gerichtsgemeinden waren es sich gewohnt, als kleine Staaten zu regieren und brauchten einige Zeit, sich mit dem neuen Weg anzufreunden. Sie haben recht lange noch an ihren Kompetenzen festgehalten. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts, genauer mit der Verfassung von 1853, wurde die Macht der Gerichtsgemeinden gebrochen, indem ihr qualifiziertes Entscheidungsquorum (der legendäre Art. 34 KV) aufgehoben wurde. Auch hier ging es nicht ohne Druck von aussen, diesmal vonseiten des Bundes.
Als Regierungsrat hatte ich durchaus das Gefühl, dass die Gemeinden nach wie vor stark für eine gewisse Freiheit und ihre Autonomie einstanden, was ich als positiv empfand. In den Talschaften ist der Wille nach wie vor stark, individuell auf die Bevölkerung und die Verhältnisse vor Ort zugeschnittene Lösungen für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben zu suchen. Das spürte ich ganz besonders als Gesundheitsdirektor, wo die Frage zu beantworten war, wie die Strukturen in Zukunft auszugestalten sind, um auch in den peripheren Tälern eine medizinische Versorgung zu gewährleisten. Den Willen, die Aufgaben selbst an die Hand zu nehmen habe ich positiv empfunden, zeugt er doch vom Willen, Verantwortung zu übernehmen. Der föderalistische, kooperativ ausgestaltete Staatsaufbau ist ein zukunftsfähiges Modell. Eine gewisse Grundskepsis gegenüber Chur oder Bern ist gar nicht so schlecht …
Gesicht der Zentralgewalt: Christian Rathgeb (Mitte) auf Besuch im Spital Thusis, 2016. (Foto Olivia Aebli-Item)
Man könnte tatsächlich sagen, dass die Entwicklung im 19. Jahrhundert aus staatsrechtlicher Sicht «entgleist» ist. Die Struktur des Freistaats mit rund 50 Gerichtsgemeinden war für Graubünden in diesem Sinne weitsichtig. Heute streben Regierung und Parlament wieder eine Zahl von rund 50 Gemeinden an, mit dem Zielbild «starke Gemeinden und ein starker Kanton», aber keine Ebene dazwischen.
Wir liegen jetzt bereits bei 101 Gemeinden. Wenn ich sehe, wie die Anforderungen an die Gemeinden in allen Bereichen der Politik zunehmen, werden weitere Zusammenschlüsse notwendig sein, damit die Gemeinden ihre Aufgaben auch in Zukunft möglichst autonom wahrnehmen können. Aber die Strategie ist klar, dieser Wandel muss von unten, also bottom-up von der Bevölkerung herkommen und nicht vom Kanton. Diese Entwicklung braucht Zeit.
Es ist so, dass in den letzten Jahrzehnten erheblich Kompetenzen erodiert sind. Sie sind von den Gemeinden zum Kanton und von diesem zum Bund verlagert worden. Gerade im Raumplanungsrecht hat eine Verlagerung zum Bund stattgefunden, was keine gute Entwicklung ist. Dem muss entschieden entgegengetreten werden. Wichtig ist, dass mit den Kompetenzverschiebungen bewusster umgegangen wird, sonst höhlt dies die Idee des föderalistischen Staates schleichend aus. Die Zentralisierungsentwicklung widerspricht Prinzipien der Bundesverfassung, sowohl dem Subsidiaritätsprinzip wie auch der fiskalischen Äquivalenz.
Das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz gibt vor, dass eine Staatsebene für die Kompetenzen, die sie hat, auch selbst die Finanzierung trägt. Wenn nun die höhere Staatsebene mitfinanziert, führt dies langsam zu einer Erosion der Kompetenz auf die höhere Staatsebene, da diese auch mitbestimmt. Dies ist eine Gefahr für den föderalistischen Staat. Es bedarf deshalb dringend einer Aufgabenentflechtung zwischen den Staatsebenen.
Wir leben in einem Gebiet mit drei Sprachkulturen und sind uns gewohnt, im Kanton immer wieder einen Konsens zu suchen, der für alle tragbar ist. Graubünden ist stark nach dem Prinzip der Subsidiarität aufgebaut und praktiziert einen kooperativen Föderalismus. Es wurde stets versucht, den Bürgern (leider erst sehr spät auch den Bürgerinnen) möglichst viele Kompetenzen und Mitsprachemöglichkeiten im Sinne der direkten Demokratie einzuräumen. In Sachen Demokratie, kooperativem Föderalismus, Umgang mit Minderheiten und Konsenssuche, sehe ich unseren Kanton als Vorbild, insbesondere für Europa.
Wenn dieses Territorium die Schweiz wäre, würde ich es mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, einer föderalistischen Ordnung und Sozialstaatlichkeit ausgestalten. Dies sind die vier Grundpfeiler für ein erfolgreiches Staatswesen. Ich würde einen dreigliedrigen und gewaltenteiligen Bundesstaat mit Gemeinden, Kantonen und Bund einrichten. Grundsätzlich würde ich das aber nicht auf der grünen Wiese tun, sondern anknüpfen an die verfassungsrechtliche Entwicklung. Ideal wären vielleicht 1000 Gemeinden, nicht 2136 wie heute, mit Kantonen und einem dynamischen Bund. Dieser Staat würde auf allen Ebenen aktiv E-Voting und digitale Dienstleitungen einsetzen, es gäbe auf der untersten staatlichen Ebene kürzere Amtszeiten, sachbezogene Mitwirkungsgefässe und natürlich auch Stimmrechtsalter 16. Und ich würde alles unternehmen, um die Bevölkerung aktiv einzubeziehen. Staatskunde, Demokratie und Föderalismus wären Pflichtfächer ab der Primarschule. Wenn wir heute sehen, wie autokratische Regime Auftrieb erhalten, was wir noch vor wenigen Jahren nicht für möglich hielten, so müsste dies Antrieb sein, für unsere demokratischen Staat mehr zu unternehmen.
Ich bin sehr offen, was ein Mitspracherecht von Nichtschweizerinnen und Nichtschweizern betrifft, die sich hier niedergelassen und integriert haben. Es ist gut, dass es in Graubünden auf kommunaler Ebene möglich ist, den Ausländern das Stimmrecht einzuräumen. Integrierte Ausländerinnen und Ausländer sollten sich einbürgern und alle Rechte und auch Pflichten erhalten.
Föderalismus in der Krise? Christian Rathgeb mit dem damaligen Bundesrat Alain Berset und BAG-Chef Daniel Koch während der Covid-19-Pandemie. (Foto: Philip Baer)
Ich bin im Beirat eines Forschungsprojekts am Institut für Föderalismus der Universität Fribourg, das genau solche Fragen untersucht. Vorweg: ein föderalistisches Staatswesen ist ein bürgernahes Staatswesen. In unserem dreigliedrigen Bundesstaat sind grundsätzlich möglichst viele Kompetenzen bei den Gemeinden oder den Kantonen angesiedelt und nur soweit nötig sind sie beim Bund. Das führt dazu, dass die Mechanismen sehr komplex sind. Gesetzgeberische Projekte werden intensiv vordiskutiert und in umfangreiche Vernehmlassungsverfahren geschickt, damit sie gut ausgewogen sind. Das System ist auf die Machtteilung ausgelegt, damit es nicht zu einer Machtakkumulation bei einzelnen Personen kommt.
Die Pandemie hat gezeigt, dass dieses komplexe System auf Bundesebene ein viel professionelleres Krisenmanagement braucht. Wir müssen auf allen Staatsebenen fitter, d.h. krisentauglicher werden. Ich habe in der Krise unseren Bundesstaat gerne mit einer Turnhalle, in der verschiedene Geräte stehen, vergleichen. Wenn wir Politikerinnen und Politiker nicht fit genug sind um an den Geräten zu turnen, ist dies nicht die Schuld der Turnhalle. Das System erfordert ein viel grösseres Engagement als etwa im Einheitsstaat, in dem die Staatspräsidentin oder der Staatspräsident dekretiert, was passiert. Gerade in der Krise ist die Führung eines Bundesstaats viel anspruchsvoller als jene eines Einheitsstaats. Es gilt nun aus der Erfahrung die richtigen Schlüsse für die nächste Krise zu ziehen.
Dies trifft meines Erachtens vor allem für den Bund zu, der enorm Mühe hatte, ein taugliches Krisenmanagement zu implementieren. Der Vorteil der Kantone und insbesondere unseres Kantons war, dass wir über praxiserprobte Krisenstäbe verfügten, die wir sofort einsetzen konnten. Dennoch forderte uns gerade zu Beginn der Pandemie die Unsicherheit und der enorme Zeitdruck für Entscheidfindungen. Vor allem die Konsolidierung auf interkantonaler Ebene war ungenügend. Auf der anderen Seite hatte der Föderalismus erhebliche Vorteile: Nirgends auf der Welt wurden die staatlichen Hilfen für Unternehmen und bedürftig Personen so schnell und unkompliziert ausgerichtet, wie bei uns, dank kompetenten und speditiven Verwaltungen in Kantonen und Gemeinden. Etwa in Deutschland, Frankreich und Italien wurde deshalb der Ruf nach föderalen Strukturen wie der Schweiz laut. Wir selbst sind oft sehr selbstkritisch, was gut ist. Für mich hat die Pandemie aber gezeigt, dass unser Staatssystem das richtige ist, aber wir müssen es weiterentwickeln, insbesondere was das Krisenmanagement betrifft.
Im Krisenmanagement auf Bundesebene und bezüglich Kooperationen und dem Abstimmen von Massnahmen, etwa unter Kantonen in engräumigen Verhältnissen. Entsprechende Mechanismen sind zwar in den Rechtsgrundlagen vorhanden oder wurden geschaffen. Der Krisenfall muss aber eindeutig auch besser eingeübt werden.
Christian Rathgeb als Regierungspräsident mit Maske. (Foto: Philipp Baer)
Das stimmt. Im 2016 durfte ich als Sicherheitsdirektor dem Grossen Rat eine Totalrevision des Bevölkerungsschutzgesetzes unterbreiten, worin im Detail festgehalten ist, was in normaler, besonderer und ausserordentlicher Lage zu tun ist. Obwohl ich viel Zeit und Engagement für das Gesetz aufgewendet hatte, hätte ich mir nie vorstellen können, wenige Jahre später als Regierungspräsident einen Regierungsbeschluss zu unterzeichnen, der die ausserordentliche Lage für Graubünden verfügte und einen Nachtragskredit über 100 Millionen Franken zu unterschrieben, was unter normalen Umständen nie denkbar wäre. Die Regierung nahm nach der Krise eine sehr gründliche Nachbearbeitung vor, um optimale Vorbereitungen für eine nächste Krise zu treffen.
Es gab dazu zu Recht auch Kritik und kontroverse Diskussionen. Der Bundesrat war mit dem Krisenmanagement im Bundesstaat insbesondere im ersten Jahr überfordert. Auch auf kantonaler Ebene mussten wir dazu lernen. Dennoch. Die Bevölkerung hat während der Pandemie zwei Mal abstimmen können, was es weltweit nirgends gab. Und sie hat deutlich Ja gesagt zur Staatsführung in dieser Situation. Das war ein klares Zeichen. Dennoch will ich es nicht wegdiskutieren: Wir müssen aus den Erfahrungen Konsequenzen ziehen, und zwar auf allen Staatsebenen. Jede Generation muss sich von neuem mit föderalen Strukturen identifizieren und den Staat so ausgestalten, wie sie ihn haben will. Das Krisenmanagement ist gründlich zu überdenken und es sind koordiniert über alle Staatsebenen Vorbereitungen für die nächste Krise zu treffen, und zwar institutionelle und personelle.
Die Evaluationsberichte des Bundesrats, der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) und der einzelnen Kantone geben hierzu unmissverständlich Auskunft. Als Präsident der KdK habe ich in der Pandemie zwei Mal mit den Spitzen aller Jungparteien unseres Landes darüber diskutiert, welche Vorstellungen sie hinsichtlich unseres föderalen Staates haben. Dies waren aufschlussreiche Gespräche. Die Parteispitzen der Jungparteien haben sich ganz grossmehrheitlich zum föderalen Staat bekannt, dennoch klare Forderungen aufgestellt: die junge Generation möchte flexiblere und sachbezogene Mitwirkungsmöglichkeiten, möchte auch kürzere Amtszeiten, um auch während der Ausbildung bereits für eine gewisse Zeit mitwirken zu können und sie möchte auf allen Ebenen klare Führungsstrukturen. Generell erwartet die junge Generation mehr Dynamik und Flexibilität. Die Jungpolitikerinnen und -politiker gaben mir gegenüber immer auch ein deutliches Bekenntnis zum demokratischen, rechtsstaatlichen und föderalen Staat ab. Ich empfinde es als sehr positiv, dass eine Generation heranwächst, die weiss, was sie will und unser Staatswesen weiterbringen möchte.
Doch, die kommunale Ebene ist nach wie vor der Einstieg für die meisten in die aktive politische Mitwirkung. Und gerade die Gemeinden können ein Labor für solche Ideen sein. Ich denke an themenbezogene Arbeitsgruppen und Kommissionen oder an Möglichkeiten einer digitalen Mitwirkung. Einige Gemeinden in unserem Kanton sind sehr innovativ sind dahingehend unterwegs.
(lacht) Ich habe mich nie wie eine Marionette gefühlt, sondern immer das gemacht, wovon ich überzeugt war. Es gab schon immer staatskritische Menschen. Heute haben diese mit den Sozialen Medien einfach viel grössere Mobilisierungsmöglichkeiten. Ich war selbst an einer Kundgebung in Chur (etwa auf der Quaderwiese mit mehreren Tausend Personen), um zu sehen, wo effektiv der Schuh drückt. Wichtig ist, dass solche Entwicklungen ernst genommen werden, denn sie sind Ausdruck von Unzufriedenheit. Die Politik kann durch eine gute und substanzielle Kommunikation einiges entgegen halten.
Wir Politiker haben hier eine Bringschuld: Wir müssen zumindest versuchen, diese Menschen in den Diskurs zu integrieren. Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von verhältnismässig viel Konsens und Wohlstand, weshalb die Partizipation zurückgegangen ist. In anspruchsvolleren Zeiten steigt das Interesse, sich zu beteiligen wieder an, was nicht negativ ist. Wichtig ist, dass wir einen Dialog mit staatskritischen Gruppierungen aufrechterhalten. Am Ende sind es immer die Bürgerinnen und Bürger, die entscheiden. Die Politik muss ihre Entscheide substanzieller begründen. Dabei gilt es, alle Kommunikationsmöglichkeiten zu nutzen, sowohl die klassischen als auch die neuen, inklusive die Sozialen Medien.
Mich beängstigt diese eigentlich nicht. Ich sehe sie als ein Weckruf an die Demokratie. Als Regierungsrat hatte ich das Privileg, mich den ganzen Tag hindurch mit teils komplexen Sachverhalten, wie etwa den Finanzausgleichssystemen zu beschäftigen. Dies genügt aber nicht. Es gilt auch gut zu kommunizieren, differenziert und transparent, verständlich, einfach und nachvollziehbar, da die Bevölkerung sich nicht gleich intensiv mit diesen Themen beschäftigen kann. Es braucht einen intensiveren Dialog zwischen Behörden und Bevölkerung.
Vieles wird in der Tat immer komplexer und vernetzter. Aber wenn die politische Seite ihre Aufgabe macht, zielführend kommuniziert und hinreichend darlegt, was sie macht, dann sind die Bürgerinnen und Bürger auch in der Lage, zu entscheiden. Darauf basiert die Idee der direkten Demokratie. Moderne Technologien, wie etwa E-Voting und generell die Medien helfen dabei elementar mit. Zudem spielen aktive und engagierte Parteien eine zentrale Rolle für die Meinungsbildung. Ich bin zuversichtlich, dass wir auch in geändertem Umfeld die direkte Demokratie aufrechterhalten können.