Alberto Giacometti in Rom, Juni 1921. (Foto: Archiv Familie Berthoud)
Eberhard W. Kornfeld, der bekannte Schweizer Galerist und Sammler, hätte sie gern gesehen, die aktuelle Ausstellung im Bündner Kunstmuseum. Die Kuratoren Stephan Kunz und Paul Müller hatten ihn vor Monaten schon eingeladen, ja mehr als das: Die Ausstellung sollte ihm zu seinem 100. Geburtstag gewidmet werden. Dafür würde es sich lohnen, 100 Jahre alt zu werden, schrieb Kornfeld zurück. Doch leider reichte es nicht mehr, im April verstarb er in seinem Zuhause in Bolligen, umgeben auch von Werken des von ihm so sehr geschätzten Alberto Giacometti.
In Kornfelds Sammlung liegt so mancher grosser und kleiner Schatz. Einer davon ist die Geburtsanzeige ebenjenes Alberto Giacometti, gezeichnet von dessen Vater Giovanni kurz nach der Geburt. «Voilà le Bougre», schrieb Giovanni unter das Bild des Säuglings, da ist er also, der Kerl. Es ist das erste Bildnis von Alberto, der seinem Vater als Künstler erst nacheifern und ihn schliesslich übertreffen sollte.
Die Beziehung zwischen Vater und Sohn war der Ausgangspunkt der Recherche, die Kunz und Müller vor etwa drei Jahren begannen, genauer eine Postkarte des Vaters an den etwa zweijährigen Sohn, in dem er von Murmeltieren in Flims berichtete, wo er für die Ausarbeitung eines Panorama-Auftrags für das Hotel «Waldhaus» weilte. Die beiden sollten auch später noch intensiv und regelmässig in Kontakt stehen und sich gerade über die Kunst austauschen. Mit gegenseitigen Einflüssen, wie die Ausstellung «Porträt des Künstlers als junger Mann» unter anderem herausschält.
Das Selbstbildnis von 1921 von Alberto Giacometti. (Foto Livia Mauerhofer/ © Succession Alberto Giacometti / 2023, ProLitteris, Zürich)
Wer diese Schau besucht, der fragt sich bald einmal, wie das wohl gewesen ist, damals zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Bergell, als in Stampa Giovanni und Annetta Giacometti ihre Familie gründeten. Nimmt man die gängige Überlieferung zur Hand, zeigt sich ein harmonisches Bild.
Alberto wuchs mit seinen Geschwistern Diego, Ottilia und Bruno überaus behütet auf. Die Eltern stritten sich nie, die Kinder selten, heisst es etwa in der von James Lord verfassten Biografie, die noch immer als das Standardwerk gilt. Die Mutter strahlte Wärme und Geborgenheit aus, der Vater verhielt sich mehr fördernd als fordernd gegenüber seinen Kindern, unter denen gerade der erstgeborene Alberto schon früh eine künstlerische Begabung verriet. Gemeinsam standen sie Mal um Mal im Atelier und studierten Alte Meister in Büchern, wie etwa eine Zeichnung von Patenonkel Cuno Amiet bezeugt.
Ins Atelier des Vaters zieht es Alberto stets, sobald die Schule aus ist, ob nun zum Studium von Katalogen oder zum Zeichnen und Malen. Einige der frühesten erhaltenen Werke sind Kopien Albrecht Dürers, dem er sogar das «A» in der Signatur abschaut, aber auch Bildnisse der Geschwister und der Mutter. Wer sie betrachtet, stellt sich unweigerlich einen kleingewachsenen Zehn- oder Elfjährigen vor und kommt um den Begriff Wunderkind nicht umhin.
Blick in die Ausstellung mit frühen Büsten der Familienmitglieder. (Foto: Bündner Kunstmuseum)
1915 tritt Alberto in das Lehrerseminar an der Mittelschule Schiers ein und wird später in die Studentenverbindung Amicitia aufgenommen. Sein Vulgoname lautet «Büsi», «wegen seines schmeichelnden, wie auch manchmal kätzchenhaften Benehmens», wie es im Bericht der Verbindung heisst. Zu diesem Zeitpunkt ist der Sohn des berühmten Malers in der Schule bereits eine Figur mit Sonderstatus. Sein Zeichentalent bleibt nicht unbemerkt, er porträtiert Mitschüler und die umliegende Landschaft in zahlreichen Blättern. Und er darf sich ein eigenes Atelier unter dem Dach einrichten, wo er in der Freizeit arbeitet, wie er in vielen Briefen nach Hause schreibt.
Er ist ein gelehriger Schüler mit rascher Auffassungsgabe, der Bücher liest, die über den Schulstoff hinausgehen. Neben seinem Zeichentalent macht sich sein Gespür für Sprache bemerkbar, sei es in den Briefen nach Hause oder in den Schulaufsätzen.
Doch zur Matur sollte es nicht reichen: Wenige Monate vor dem Abschluss zieht es Alberto fort von Schiers, offiziell, weil er sich klar werden wolle, wohin sein Weg führen soll, wie er es dem Direktor und den Eltern erklärt. Die viele Jahre später entstandene Lord-Biografie suggeriert hingegen eine unglückliche, verwirrende Verliebtheitsgeschichte mit einem Mitschüler. In der detailreichen Biografie, die Paul Müller zum Katalog zur Ausstellung beisteuert, ist davon nichts zu lesen, ohnehin kommt sie ohne nachträgliche Psychologisierung aus und hält sich strikt an die belegbaren Daten und Fakten.
Wie auch immer: Die Eltern zwingen den Sohn nicht zum Ausharren, sondern lassen ihn nach Stampa kommen. Vater Giovanni nimmt ihn sodann mit an die Biennale von Venedig, wo er den Schweizer Pavillon inspizieren sollte. Die zeitgenössische Kunst macht dem Jungen jedoch wenig Eindruck, vielmehr berührt – ja erschlägt, wie er schreibt – ihn die Kirchenmalerei der Italiener Tintoretto und Giotto. Nach der Rückkehr nach Stampa führen ihn weitere Studienreisen nach Florenz und für einen längeren Aufenthalt nach Rom, wo Alberto nicht nur zu rauchen beginnt, was er zeitlebens kräftig tun sollte, sondern sich auch der Entschluss zur Kunst immer mehr festigt. Nur, ob es ihn zur Malerei oder zur Bildhauerei ziehen würde, das war damals noch nicht ganz entschieden.
Ein Selbstbildnis von 1920. (Foto: Succession Alberto Giacometti / 2023, ProLitteris, Zürich)
Später sollte Alberto auf seine zeichnerischen Jugendarbeiten zurückschauen und zu James Lord sagen: «Ich war überzeugt, die Sache so sicher zu beherrschen, dass ich genau das wiedergeben konnte, was ich wollte ... ich bewunderte mich selbst, ich glaubte, dass mir alles möglich sei mit diesem wunderbaren Mittel: dem Zeichnen; dass ich überhaupt alles nachzeichnen könne und dass ich es so gut verstünde wie niemand sonst.»
Dieses Selbstbewusststein steht in strengem Gegensatz nicht nur zu Albertos späterem Verzweifeln an der Darstellbarkeit des Gesehenen und des Sehens selbst – es war auch das Gegenteil dessen, was ihn an der Bildhauerei reizte. Dort hatte er mehr zu kämpfen, auch davon zeugen die ersten Büsten und Reliefs aus diesen Jahren. Alberto tritt in Genf in eine Bildhauerschule ein, wechselt nach wenigen Wochen in eine andere und bricht schliesslich ganz ab – wiederum nicht gegen den Willen der Eltern. Sie lassen ihn machen.
Er geht nach Paris, wieder besucht er Kurse, findet ein Atelier, zieht später um an die Rue Hippolyte Maindron, stellt erste Arbeiten aus und findet allmählich aus dem Schatten des Vaters heraus. Man könnte meinen, ein in einem ähnlichen Feld arrivierter Vater könnte ein Hemmnis, ein ewiger Gegner sein, an dem man sich abarbeiten muss – bei den Giacomettis war es offenbar anders. Als der Vater 1933 stirbt, kann sich Alberto nicht dazu überwinden, das Begräbnis zu besuchen. Er fällt in eine tiefe Krise, aus der er erst nach langem Leiden herausfindet – und letztlich zu dem Giacometti wird, den wir heute kennen.
Eindrückliches Zeugnis der Verbundenheit ist die Serie von Köpfen, die Alberto um 1927 von seinem Vater modelliert – eine Art Hommage an den Mentor. Zu sehen waren diese übrigens in einer Ausstellung Giovannis, in die er auch diese Werke seines Sohns aufnahm. Sie sind in der Churer Ausstellung in seltener Zusammenkunft mit Gemälden des Vaters vereint.
Alberto Giacomettis «Silsersee» von 1921/1922. (Foto Livia Mauerhofer/ © Succession Alberto Giacometti / 2023, ProLitteris, Zürich)
Ebenso bezeugt die gross angelegte Schau mehrere Werke, die die beiden Künstler vom gleichen Modell schufen, sei es von einem einheimischen Bauern Giovanni Persenico oder der jungen Maria Giovannini. Die Gegenüberstellungen üben einen ganz eigenen Reiz aus, lassen sie doch erkennen, wo der Sohn dem väterlichen Vorbild folgte – und wo er zögerlich einen eigenen Weg suchte. Oft ist es so, dass Giovanni malerischer, weicher bleibt, wo Alberto die Kanten härter schafft und die Farbigkeit reduziert.
Die Vater-Sohn-Beziehung ist ein Aspekt der Ausstellung, doch nicht der einzige. Ebenso aufschlussreich sind die Zeugnisse von Albertos eigenen Nachforschungen, etwa zur ägyptischen Kunst, die ihm auf den Italienreisen und in Büchern begegnete – und in denen bereits spätere Motive wie das menschliche Antlitz oder schreitende Körper zu entdecken sind. Ein Genuss auch die Aquarelle und Zeichnungen von Landschaften aus dem Bergell und dem Prättigau, die in dieser Fülle wohl noch nie zu sehen waren.
Alberto Giacomettis Frühwerk wird gemeinhin im Kontext seiner späteren Arbeiten gezeigt, als Illustration des Künstlergenies, als das er später galt. Die Churer Ausstellung stellt für einmal diesen Abschnitt von Albertos Schaffen bis circa 1925 ganz ins Zentrum. Und stellt damit die Frage, wie sehr Giacometti – noch bevor er zu unser aller Giacometti wurde – bereits als junger Mann ein bedeutender Künstler war. Die Antwort lässt sich noch bis 19. November im Bündner Kunstmuseum suchen.