Ein Schulhaus und eine alte Scheune

Holzfront am Schulhaus Alvaschein. (Foto: Ralph Feiner)

Gemeinschaftlich in Alvaschein und ein Künstlerhaus in Thusis
Zehn Jahre lang stand das Schulhaus in Alvaschein leer. Nun ist mit dem von Mirko Baselgia initiierten Kunst- und Kulturzentrum «ACACA» neues Leben ins Haus eingekehrt. In Thusis hütet eine Stiftung die Schätze der 2018 verstorbenen Lilly Keller und lässt durch junge Künstlerinnen deren Haus und Werk weiterleben.
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Maya Höneisen

Ein fertiges Konzept hatte der Künstler Mirko Baselgia nicht im Sack als er bei der Gemeinde Albula/Alvra vorstellig wurde. «Es waren bloss ein paar Ideen», erzählt er. Sie betrafen das seit zehn Jahren leer stehende Schulhaus in Alvaschein, das ihm doch als guter Ort für Kunst und Kultur und sein eigenes Atelier zu sein schien. Die zuständige Mitarbeiterin für Liegenschaften, Agnes Simeon, und der Gemeindepräsident, Daniel Albertin, fanden diese Ideen spannend und baten ihn, dem Gemeindevorstand ein ausgearbeitetes Konzept vorzustellen. Gesagt getan, Mirko holte seinen guten Freund, Andrin Willi, ins Boot, spann die Fäden weiter und präsentierte das Ganze vor zwei Jahren dem Gemeindevorstand. Auch da fanden die Ideen Anklang. Allerdings sollte die Bevölkerung mitreden dürfen, wurde ausbedingt. Das war ganz im Sinn von Mirko Baselgia. Für ihn war klar, dass sein Projekt in der Bevölkerung verankert und eines mit offenen Türen sein muss. «Wir haben also den Verein Associaziun Center d’Art e Cultura Alvra gegründet und Leute in den Vorstand geholt, die einen Bezug zum Gebäude und zur Gemeinde haben», erklärt er. Nach Unterzeichnung entsprechender Verträge mit der Gemeinde war der Verein Mieter des Schulhauses und Mirko Baselgia durfte als Untermieter im Februar 2021 sein Atelier in der Turnhalle einrichten. «Für mich ist es ein Privileg, hier ein Atelier haben zu dürfen. Also soll auch Leben in dieses Haus kommen», meint er. Das sei von Beginn weg für ihn klar gewesen.
 

Bewahren von altem Wissen

Mit der Neustrukturierung des Schulhauses möchte Mirko Baselgia einen Ort der Begegnung schaffen. Wie also in diesem Sinn die leer stehenden Räume füllen? Die Grundidee lautete grob umrissen: altes Handwerk, Bewahrung alten Wissens, Natur und Materialien aus der Umgebung. Mit Priorität sollten Einheimische aus der Gemeinde Albula/Alvra die Möglichkeiten haben, innerhalb dieses ungefähr abgesteckten Rahmens ihre Ideen umsetzen zu können. Inzwischen ist einiges passiert. Drei Frauen aus dem Dorf, die regelmässig im «Bachhüsli» in Alvaschein Brot backen, bieten jetzt über den Verein einen Brotbackkurs an. Ein Landwirt, der in aufwendiger Handarbeit Pfeilbogen herstellt, gibt sein Wissen Interessierten weiter. Eine Bibliothek, ausgerichtet auf den Inhalt des Grundkonzeptes, nimmt Formen an. Baulich umgesetzt wird sie von Bearth und Deplazes Architekten, Bearth, Deplazes, Ladner, die damals das Schulhaus entwarfen. Hinsichtlich eines Gemeindearchivs, das ins Schulhaus kommen könnte, werden heute entsprechende Un­terlagen zusammengetragen. 

Mirko Baselgia arbeitet mit Vorliebe mit Ressourcen aus der Natur. (Foto: Simon Habegger)

Die Neustrukturierung des Schulhauses Alvaschein erlaubt Einheimischen, ihre Ideen umzusetzen. (Fotos: zVg)

Ein Mittagstisch, entstanden aus dem Bedürfnis der eigenen Familie und der Mitarbeitenden von Mirko Baselgia, war anfangs eine Herausforderung. Nicht jeder, der für den Küchendienst eingeteilt war, kochte gerne. Schliesslich konnte mit einer regelmässigen Unterstützung von aussen eine Lösung gefunden werden. Bereits denkt Mirko Baselgia daran, dieses Teilprojekt auszuweiten. «So könnten zum Beispiel Mitarbeitende des Parc Ela oder der Gemeinde mit verpflegt werden», schwebt ihm vor. Bioprodukte kommen schon heute aus den Gärten und von den Äckern der Region. Den Eingang und das Foyer des Schulhauses stellt sich Mirko Baselgia als Herz des Hauses und Ort der Begegnung vor. 

Leistungsvereinbarungen sichern das Gesamtprojekt

Als Partnerin an Bord geholt hat Mirko Baselgia die Schule für Gestaltung Graubünden. In Zusammenarbeit mit dem Schulleiter, Thomas Metzler, hat er den Diplom-Studiengang «Kunst und Handwerk» entwickelt. Rund ein Viertel der Lektionen finden mit Mirko Baselgias als Dozent in seinem Studio in Alvaschein statt. Dank Leistungsvereinbarungen mit dem Kanton Graubünden, der Region Albula und der Gemeinde Albula ist das Gesamtprojekt finanziell zu einem guten Teil abgesichert. Im Gespräch für eine weitere finanzielle Unterstützung ist der Verein momentan auch mit dem Bund. Vorerst erlauben die gesicherten Mittel, per Anfang nächsten Jahres eine Geschäftsstelle einzurichten.  
Es kommt also, etwas salopp gesagt, Leben in die Bude. Mirko Baselgia zieht rund eineinhalb Jahre nach der Vereinsgründung ein positives Fazit: «Langsam kommt die Geschichte in Schwung und beginnt, Eigendynamik zu entwickeln. Ich bin sehr froh, wenn das Haus wieder mit Leben gefüllt wird.» 

Ein Refugium in Thusis: Blick in Lilly Kellers Atelier, in dem sie auch bis zuletzt an ihren Künstler­innenbüchern arbeitete. (Fotos: Michel Gilgen)

Das Lilly-Keller-Haus: Ein Gesamtkunstwerk in Thusis

In ihren letzten Lebensjahren hat die Künstlerin Lilly Keller (1929–2018) ihr Haus in Thusis kontinuierlich in einen Ort der Kunst verwandelt. Sie schuf sich ihren eigenen Kosmos, an dem sie bis ins hohe Alter mit ungebrochener Schaffenskraft weiterarbeitete. «Es braucht Leidenschaft und ein inneres Feuer für das, was man tut. Hat man das nicht, ist man ein unglücklicher Mensch», sagte sie noch kurz vor ihrem Tod. Diesem Grundsatz ist sie ihr Leben lang bis ins hohe Alter treu geblieben und hat sich damit ein kleines kostbares Paradies geschaffen. Man kann sich kaum sattsehen an ­den vielen kleinen und grösseren Kunstwerken von ihr selbst und von befreundeten Künstlerinnen und Künstlern, Mitbringseln aus fremden Ländern, Dingen, die ihr lieb und teuer und Erinnerung waren. Der dazugehörige Garten mit seinen zum Teil seltenen Pflanzen, dem kleinen Teich und den vielen Skulpturen, die hinter Bäumen und Sträuchern hervorlugen, gleicht einem verwunschenen Paradies. Von Haus und Garten geht ein Zauber aus, dem man sich nicht entziehen kann und der wunderbare Einblicke in das Leben und das Werk der Künstlerin öffnet. 
 
Gut verankert in der Kunstszene

Lilly Kellers Familie wohnte zwar nicht in Thusis, war aber oft in Graubünden. Ihre Mutter stammte aus der alteingesessenen Thusner Familie Casparis, die einen florierenden Kolonialwarenhandel betrieben. Geboren wurde Lilly Keller im Jahr 1929 in Muri im Kanton Bern. Schon während ihrer Ausbildung an der damaligen Kunstgewerbeschule in Zürich war sie in den Kunstszenen von Zürich und Bern unterwegs. Ganz zurück in Bern, gehörte sie zum inneren Zirkel um Daniel Spoerri, Meret Oppenheim, Friedrich Kuhn, Peter von Wattenwyl, Jean Tinguely und Leonardo Bezzola. Im Jahr 1962 heiratete sie den Künstler und Kunstpädagogen Toni Grieb und zog mit ihm nach Montet-Cudrefin in den Kanton Waadt. Auf ihrem dortigen 6000 m² grossen Anwesen liess das Paar einen Park mit seltenen Bambusarten und Nadelbäumen entstehen, bevölkert von den verschiedensten Tieren. «Lilly Keller hat ihre Arbeit immer mit der Natur verbunden. Sie war ihr eine grosse Inspirationsquelle», erzählt Ursula Riederer, Präsidentin der Stiftung Lilly Keller in Thusis. Sie war Freundin und Vertraute im letzten Lebensjahrzehnt der Stifterin.

Eine streitbare Künstlerin

In Montet entwickelte Lilly Keller einen von ihrem Künstlerkreis in Bern unabhängigen und visionären künstlerischen Weg, den sie konsequent weiterging. Sie war aber auch eine streitbare Künstlerin, die sich leidenschaftlich für die Stellung der Frauen in der Kunst einsetzte. Mehr noch: «Dafür kämpfte sie unermüdlich», erklärt Ursula Riederer. So wehrte sie sich zum Beispiel vehement, wenn Künstlerinnen, die mit Textilien arbeiteten, als Kunsthandwerkerinnen bezeichnet wurden und in keinem Kunsthaus, sondern «nur» im Kunstgewerbemuseum ausgestellt wurden. Auch dass Frauen bis ins Jahr 1972 nicht Mitglieder der Gesellschaft Schweizerischer Maler und Bildhauer (GSMB), heute Visarte, aufgenommen wurden, war ihr ein Dorn im Auge. Mutig genug war sie denn auch, eine ihrer Arbeiten im Helmhaus Zürich als Karl Keller einzureichen. Worauf sie tatsächlich den Weg in die Ausstellung fand.

Von ihrem künstlerischen Weg zeugen die rund ­90 Kunstbücher, die sie über einen Zeitraum von 50 Jahren geschaffen hat. Das erste entstand im Jahr 1957, das letzte beendete sie im Jahr 2017, kurz vor ihrem Tod. Die eng mit ihrem Leben verbundenen Bücher sind das Zentrum von Lilly Kellers Schaffen und bilden den Ursprung ihrer über 2000 Werke.

Das Haus als Künstlerresidenz

Als ihre Mutter 1979 starb, erbte Lilly Keller die Scheune mit Pferdestallungen und Baumgarten, die zum Besitz der Familie Casparis gehörte. Ab 1981 baute sie das Haus sukzessive zu einem bescheidenen Rückzugsort mit Atelier aus und pflanzte im dazugehörigen Garten seltene Gewächse. Dies im Hinblick auf einen späteren möglichen Wohn- und Arbeitsort. Nach dem Tod ihres Lebensgefährten baute sie das Haus wintertauglich aus, verkaufte das Anwesen im Waadtland und machte es zu ihrem Lebensmittelpunkt.

Schon früh hätten sie darüber gesprochen, was dereinst mit dem Haus geschehen sollte, erklärt Ursula Riederer. Lilly Keller war kinderlos. Die Künstlerin entschied sich für eine Stiftung. Lilly ­Kellers Wunsch war es, professionellen Kunstschaffenden die Möglichkeit zu bieten, das Atelier inklusive Koch- und Schlafgelegenheit für einen oder mehrere Monate zu nutzen. «Als sie am 2. Januar 2018 starb, war alles bereits mit einem Notar geregelt. Mich hatte sie als Stiftungsrätin eingesetzt», erinnert sich Ursula Riederer. Im Sommer 2020 beherbergte die Stiftung erst mal den in Ecuador lebenden Maler Alejandro Vásquez als Artist in Residence in Lilly Kellers Haus.

Im Sommer 2021 war die renommierte Zürcher Künstlerin Talaya Schmid Gastkünstlerin im Atelier in Thusis. Aus einem grossen Vorrat an Wolle aus dem Nachlass von Lilly Keller schuf sie eigene Soft-Sculptures, weiche Teppich-Skulpturen. Die zusätzlich geplanten öffentlichen Anlässe mit verschiedenen Künstlerinnen wurden coronabedingt in den Sommer 2022 verschoben. Unter dem Titel «Atelier vivant. Kosmos Lilly Keller» wurden Talaya Schmids Werke denjenigen von Lilly Keller gegenübergestellt und der Öffentlichkeit gezeigt.

 

Eines von über 80 Künstlerinnenbüchern von Lilly Keller. (Foto: Michel Gilgen)

Weitere Infos
Der Künstler Mirko Baselgia

Mirko Baselgia (*1982) arbeitet mit Vorliebe mit den Ressourcen, die ihm aus der Natur und dem Lebensraum von Tier und Mensch zur Verfügung stehen. Wobei im Zentrum der Prozess steht, in welchem die Materialien aus der Umgebung zur Kunst geformt werden. In diesem Umfeld arbeitet er an verschiedenen Themen. Er beschäftigt sich etwa mit der Oberflächenstruktur der Flügel eines Falters oder der Rinde eines Baumes. Er geht der Frage nach den Grundkomponenten der Ölmalerei mit ihren schädlichen Materialien wie zum Beispiel Lösungsmittel nach und gibt in seinen Arbeiten Gegensteuer. Entsprechend werden die Rahmen aus regionalem Holz gefertigt. Was die Leinwand anbelangt, experimentiert er mit der Handweberei Tessanda in Sta. Maria Val Müstair mit Hanf und Brennnesselfasern. Den Leim für die Grundierung stellt er aus Hirschhaut her. Und schliesslich stammen die Pigmentfarben aus den Steinen aus der Region. 

Eines seiner neuesten Werke zeigt Mirko Baselgia an der Jahresausstellung im Bündner Kunstmuseum. Es zeigt den Tagfalter Parnassius apollo, der in Graubünden recht häufig vorkommt, in der Schweiz jedoch bedroht ist. Die Jahresausstellung findet vom 11. Dezember 2022 bis zum 29. Januar 2023 im Erweiterungsbau des Bündner Kunstmuseums statt. 

 

Trägerschaften

Associaziun Center d’Art e Cultura Alvra

Der Verein Associaziun Center d’Art e Cultura Alvra wurde am 1. Januar 2021 gegründet. Der Künstler Mirko Baselgia initiierte die Vereinsgründung mit dem Zweck, die Region Albula, im Besonderen die Schulanlage Alvaschein zu beleben. Die Ziele des Vereins sind die künstlerische und sozio-kulturelle Vitalisierung der Region, die Schaffung einer praxisnahen Ausbildungsstätte für Bildende Kunst, die Vermittlung von Kunst, Kultur und Natur, die Verbindung theoretischer Kunstausbildungen mit Best-Practice-Methoden im künstlerischen Anwendungsbereich.

Stiftung Lilly Keller

Lilly Keller setzte testamentarisch die Lilly Keller Stiftung als Erbin ihres Nachlasses ein. Dazu gehört neben ihren Werken die Liegenschaft an der Oberen Stallstrasse in Thusis mit dem von der Künstlerin gestalteten Garten. Die Stiftung bezweckt zum einen das Erhalten und das Fördern der Kunst von Lilly Keller. Zum anderen strebt sie gemäss dem Willen der Stifterin die Umwandlung des Wohn- und Arbeitsortes der Künstlerin in einen kulturell lebendigen, für die Öffentlichkeit und für kreative Initiativen offenen Ort an. 

Online www.baselgia.com, www.acaca.ch, www.lillykeller.ch

Autorin

Autorin Maya Höneisen ist regelmässige Mitarbeiterin der «Terra Grischuna». m.hoeneisen@wortmarkt.ch