Wenn Orte Geschichten erzählen, dann erzählt dieser die Geschichte des Schweizerischen Nationalparks. Es war im Jahr 1908, als der Basler Paul Sarasin im Engadin unterwegs war. Der Präsident der Schweizerischen Natuforschenden Gesellschaft war auf der Suche nach einem geeigneten Nationalparkgebiet, eine Idee, die zu jener Zeit vor allem in städtischen Kreisen Fuss gefasst hatte. Sarasin, wohlhabend und weit gereist, propagierte gemeinsam mit seinen Mitstreitern die Errichtung von Reservaten, in denen die Natur vom Zugriff der zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung geschützt wäre. Der Zufall wollte es, dass Sarasin im Hotel Il Fuorn auf Steivan Brunies stiess, einen aus der Gegend stammenden Botaniker. Dieser lenkte Sarasins Blick auf die Val Cluozza, ein urtümliches und wildes Tal mit steilen Flanken. Alpwirtschaft war hier nur gerade in den höchsten Lagen möglich, zudem lag es mit der Holzwirtschaft ohnehin im Argen in diesen Jahren, was es erleichtert haben dürfte, die Gemeinde Zernez von einem Pachtvertrag über 25 Jahre zu überzeugen. Dieser wurde 1909 unterschrieben. Und die Val Cluozza fortan vor Holzschlag, Jagd und Bergbau geschützt.
Eine parlamentarische Delegation beim Besuch in der Val Cluozza 1913.
Es war der Auftakt zur Gründung des ersten Nationalparks der Alpen und Mitteleuropas. Dessen offizielles Geburtsdatum ist zwar erst der 1. August 1914. Aber auch das wäre wohl ohne die Val Cluozza und die dortige Hütte kaum so herausgekommen.
Denn vier Jahre zuvor wurde hier eine erste Chamanna gebaut, gedacht für die Parkwächter und ein paar wenige Gäste, zehn Betten und 20 weitere Schlafplätze gab es. In Bern weibelten die Naturschützer derweil dafür, dass der Bund sich finanziell engagierte. Eine Delegation mit sechs Nationalräten, fünf Ständeräten und einem Bundesrat besuchte deshalb im Sommer 1913 die Val Cluozza. Und trotz Schnee und Hagel: Man war begeistert vom Tal, der Natur und der Idee Nationalpark. 1914 kam es zur offiziellen Gründung. Und die Eidgenossenschaft übernahm von nun an die Finanzierung der Pacht.
Wer die Chamanna Cluozza besucht, gelangt also zum Ursprung des Schweizerischen Nationalparks. Dieser umfasst heute 170 Quadratkilometer, und doch gibt es auf seinem Gebiet nur eine Hütte, in der auch übernachtet werden kann. In den letzten Jahren hat die Chamanna Cluozza bis zu 4000 Übernachtungen gezählt, Tendenz stets steigend. Auch wenn die Infrastruktur über die Jahre immer wieder erweitert wurde – vom Keller über die Wasserleitung zum Kleinkraftwerk und dem Waschhaus – so wurde zuletzt doch deutlich, dass eine grössere Investition nötig wäre. Gerade wegen der hohen Auslastung der rund 60 Betten und den alten Böden wurde es für die Hüttenwarte zunehmend unmöglich, sich zurückzuziehen und Ruhe zu finden.
Ensemble in den Lärchen: die Chamanna Cluozza.
Deshalb schrieb der Schweizerische Nationalpark 2018 einen Wettbewerb aus. Neben der Erneuerung der Kläranlage sollten in erster Linie die Betriebsabläufe optimiert und die Personal- und Gästebereiche entflochten werden, so der Auftrag. Und gerade hier punktete das Projekt des Büros Capaul/Blumenthal aus Ilanz. Statt das bestehende Gebäude zu erweitern, schlugen sie einen Neubau vor, der ganz für die Hüttenwartfamilie reserviert sein sollte. Ein Neubau auf Nationalparkboden? Was zunächst problematisch klingen könnte, wurde von der nationalen Natur- und Heimatschutzkommission abgesegnet, besteht die Chamanna Cluozza doch heute schon aus einem Ensemble an Gebäuden, dem – wenn auch mit höchsten Ansprüchen – ein weiterer Baukörper hinzugefügt werden dürfte.
Und so steht nun hinter der Chamanna ein Strickbau aus Lärchenholz, fünf auf fünf Meter, drei Geschosse hoch, jedes mit einem separaten Eingang. Die Wände sind lediglich zwölf Zentimeter dünn, ebenso der Betonsockel, auf dem der Strickbau ruht. Der Bau ist zugleich modern, streng und reduziert, gemahnt aber dennoch an die Urtümlichkeit eines Wohnturmes, eine der frühesten Bauformen überhaupt.
Die Verbindung von Moderne und Tradition war auch Leitthema bei der Renovation der Hütte. Die verschiedenen Bauphasen sind nun sicht- und fühlbar, in der Zwischenzeit eingesetztes Täfer wurde beispielsweise entfernt, womit der ursprüngliche Strickbau aus lokalen Lärchen wieder hervortritt. Später und auch noch heute konnte das Baumaterial selbstredend nicht mehr aus der direkten Umgebung gewonnen werden – auf Nationalparkgebiet ist jeder Holzschlag verboten. Und doch stammen die Materialien aus der Region, die 30 000 Schindeln für das Dach aus Ramosch etwa oder der Kalk für die Verputze aus Sur-En. Als «vernakuläre Bauweise» bezeichnet Architekt Ramun Capaul diese Herangehensweise, die möglichst Baustoffe und -techniken aus der Umgebung verwendet.
Wie erwähnt war nicht nur die Hütte renovationsbedürftig, sondern auch die Kläranlage musste erneuert werden. Eine bei rund 4000 Übernachtungen nicht unerhebliche Infrastruktur. Hier betritt der Nationalpark Neuland, wurde doch ein System aus Wurmkompost und pflanzlicher Klärung installiert, das erstmals in dieser Höhe in der Schweiz eingesetzt wird.
Blick auf die Chamanna Cluozza.
Nachhaltigkeit steht auf betrieblicher Ebene ohnehin im Vordergrund. Mit dem neuen Hüttenwartpaar Nicole und Artur Naue konnte der Nationalpark zwei erprobte Gastgeber verpflichten. Zuletzt arbeiteten die beiden auf der Trifthütte im Berner Oberland, wo sie bereits eine weitgehende Nachhaltigkeitsphilosophie lebten. Diese setzen sie nun im Nationalpark um. In der Chamanna Cluozza wird etwa künftig auf Getränke in PET-Flaschen verzichtet, was nicht nur die Abfallmenge verringert, sondern auch weniger Transportflüge per Helikopter nötig macht. Die Nahrungsmittel werden so weit wie möglich aus der Region bezogen, zudem stellen sie viele der angebotenen Produkte selber her. Eine Philosophie, die wohl auch jenen zugesagt hätte, die vor mehr als 100 Jahren durch die Val Cluozza streiften, um den Nationalpark zu gründen.