Staunen in den Wipfeln

Der Baumwipfelpfad in Laax
In Laax steht seit letztem Sommer der längste Baumwipfelpfad der Welt. Wie kommt man dazu, einen Weg auf Stelzen durch den Wald zu ziehen?
Text 
Julian Reich
Bilder 
Philipp Ruggli

«Oh», sagt Opa, «wow» die Enkelin, während Mutter und Vater noch auf dem Handy das Ticket lösen. Wer um die Ecke des Hauses D im Rocksresort in Laax kommt, dem entfährt beim Anblick des aus Holz und Beton gefertigten Turms unwillkürlich ein Ausruf des Staunens. 28 Meter über dem Boden liegt er, der Einstieg in den Baumwipfelpfad, oder Senda dil Dragun, wie der im Juli letzten Jahres eröffnete Pfad zwischen Laax Murschetg und Laax Dorf auch heisst. Mit etwas über 1,5 Kilometern ist er der längste Baumwipfelpfad der Welt, enstanden ist er in so kurzer Zeit, dass auch das ein Rekord sein könnte.  

 

Von Anfang an in das Projekt involviert war Reto Poltera von der Weissen Arena Gruppe, von der ersten Idee bis zur letzten Schraube. Ein Verwaltungsrat habe ihm 2016 vom Konzept Baumwipfelpfad erzählt, in Deutschland gebe es etliche davon, er solle sich das mal anschauen. «Ich fand das ehrlich gesagt keine besonders tolle Idee», gibt Poltera zu. «Wieso soll man irgendetwas in den Wald bauen, nur um darauf zu gehen, das kann man ja auch auf dem Boden.» Doch er gab der Sache eine Chance, fuhr nach Deutschland, sah sich einen Baumwipfelpfad an und sah, dass da Kinder, Eltern und Grosseltern mit Freude drübergingen, der ganze Clan quasi – das könnte schon noch Sinn machen, dachte er. Kritischer war dann wiederum die Geschäftsleitung der Weissen Arena: Eine Idee aus Deutschland kopieren? Das passt so gar nicht zum Innovationsgeist, dem man sich hier verschrieben hat. Eine Idee ist immer besser, wenn sie in Laax entstanden ist.

Erst als der Pfad nicht mehr bloss Erlebnisinstallation werden, sondern auch von Nutzen sein sollte, fand die Idee Rückhalt. Zunächst bei der Weissen Arena, dann bei der Gemeinde Laax. Die zündende Idee: Bislang sind Laax Murschetg, wo die Bergbahnen und Ferienwohnungen liegen, und das Dorf kaum miteinander verbunden, und wenn, dann über wenig schöne Forststrassen durch den Wald. Da wandert kaum jemand gern. Ein neuer Pfad, der die beiden Ortsteile verbindet, könnte auch das Dorf beleben, so die Idee. «Das hat schon im vergangenen Sommer voll eingeschlagen», sagt Poltera heute: Die Badi am Laaxer See war voll, das Restaurant kam an die Kapazitätsgrenzen.

 

Was aber von Anfang an klar war: Die Weisse Arena würde diesen Pfad nie selber bauen können – als private, gewinnorientierte Firma, die mit ihren Bauten am Berg ohnehin schon die Landschaft stark beansprucht. Also übernahm die Gemeinde Laax die Bauherrschaft, sprach einen Kredit von 7,5 Millionen Franken, ein Teil davon kam von Kanton und Bund. Die Weisse Arena ist nun Pächterin und zahlt der Gemeinde die Investitionskosten in den nächsten 25 Jahren zurück. «Voraussichltich auch schon früher», sagt Poltera, und wenn es so weitergeht mit den Eintritten, schaut sogar für die Gemeinde noch ein Gewinn heraus.

 

Baum um Baum

Poltera erzählt von den ersten Begehungen, die er mit dem Revierförster Maurus Cavigelli unternahm. Da stapften sie durchs Unterholz und der Förster zeigte hierhin und dorthin auf jene Bäume, die er unbedingt behalten wollte – so nahm der Weg langsam seinen Zickzack-Kurs durch den Wald an. Dann begleitete man die Vertreterinnen der Naturschutz­organisationen durchs Gehölz, womit sich der Verlauf ein weiteres Mal veränderte. Kam da nie Widerspruch von Pro Natura oder WWF? «Wir haben ihnen von Anfang an versichert, dass wir alles tun, was sie wollen», sagt Poltera. Und als klar war, dass man auch über Wald und Tiere erzählen wollte auf dem Baumwipfelpfad, sei alle Skepsis gewichen.

Am Ende erwiesen sich die Anwohner als die härtesten Opponenten gegen den Baumwipfelpfad. Sie befürchteten, dass der Lärm der Besucher auf ihren Terrassen zu hören sein würde. Während die einen besänftigt werden konnten – vor allem durch Gemeindepräsident Franz Gschwend –, hielten andere an ihren Einsprachen fest. Statt östlich und südlich des Burghügels Lagerfeld herum führt der Baumwipfelpfad nun an ihm vorbei. «Schade, denn von dort hätte man einen einmaligen Blick auf die Rheinschlucht und hinauf in die Surselva gehabt», sagt Poltera.

 

Fichtenstämme aus Sagogn

Am 7. Juli 2020 erfolgte der Spatenstich, ein Jahr später war die letzte Schraube gesetzt. Das von den Architekten Reto Durisch und Arno Deplazes und dem Ingenieur Clemens Arpagaus entworfene Bauwerk besteht aus 130 Elementen, die auf 520 Stützen liegen. 1100 Kubikmeter Fichte aus dem nahen Sagogn wurden dafür verarbeitete. Als Handwerker waren fast ausschliesslich Betriebe zwischen Laax und Trun engagiert. 1560 Meter lang ist der Pfad, rund 20 Minuten dauert der Gang vom einen Ende zum anderen. Wären da nicht die vier Plattformen, auf denen Lehrreiches zum Flimser Bergsturz, zur Burgruine Lagerberg, der Besiedelung von Laax und zu Flora und Fauna des Waldes zu erfahren ist. Man kann dort aber auch einfach ein wenig verweilen und in die Bäume gucken. Das soll auch winters möglich sein. Der Baumwipfelpfad sei ein ganzjähriges Angebot, was die Fokussierung der Destination auf die touristischen Hauptsaisons etwas abschwächen soll, so Poltera.

Etwas Pioniergeist weht übrigens dennoch auf dem Pfad. So hat die Weisse Arena Gruppe ein digitales Angebot für Erwachsene und Kinder geschaffen, das mittels virtueller Realität die Plattform-Themen vertieft und anschaulich macht. Für die Erwachsenen spricht der bekannteSchauspieler Andrea Zogg über den Flimser Bergsturz, für Kinder treten animierte Figuren aus Linard Bardills Ami-Sabi-Welt auf. Gemäss Ditti Bürgin-Brook – ebenfalls ein involvierter Einheimischer, doch mittlerweile international als Filmproduzent tätig – ist es eine der umfangreichsten Virtual-Reality-Projekte Europas. Womit wir bei einem möglichen Kritikpunkt am Baumwipfelpfad sind: Wieso den Blick auf Bildschirme lenken, wenn doch rundum die Natur aus einem Winkel zu erfahren ist, den man für gewöhnlich nicht hat? Aber vielleicht gehört das für die digitalaffine Weisse Arena Gruppe einfach dazu, und es bleibt ja ohnehin jedem und jeder selber überlassen, wohin die Augen schauen.

 

Weitere Infos

Online www.flimslaax.ch