Ein Pinselkäfer sucht sich Nahrung auf einer Wildrosenblüte in Plancas bei Casti.
In dieser Landschaft scheint die Welt von Flora und Fauna noch in Ordnung und die Natur im Gleichgewicht. Wer auf Pfaden durch die Wiesen und Weiden am Schamserberg wandert, wähnt sich auf den ersten Blick weitab von Problemen wie Klimawandel und Insektensterben. Auch Professor Klaus-Rudolf Lunau kennt dieses Gefühl. Der 67-Jährige ist Professor für Zoologie und Didaktik am Institut für Sinnesökologie der Universität Düsseldorf, doch der Schamserberg ist ihm schon fast zur zweiten Heimat geworden. Ab Ende der Siebzigerjahre bis zu seinem Ruhestand hat er ihn regelmässig auf Exkursionen mit Studierenden besucht, insgesamt mehr als zwanzigmal, und er weiss: «Am Schamserberg findet man eine Insekten- und Blütendiversität, die man sich in einer Stadt am Rand des Ruhrgebiets wie Düsseldorf gar nicht mehr vorstellen kann.»
Lunau weiss aber auch: Der Wandel macht nicht halt vor der Val Schons, sogar oberhalb der Waldgrenze, wo die Welt noch eher heil scheint, ist er evident. Lunau hat es selbst miterlebt. «In den ersten Jahren unserer Besuche fuhren die Landwirte noch mit Kleintraktoren auf ihre Bergwiesen, die Menge an Mist, die sie dabei transportierten, war sehr limitiert. Heute ist das anders und die Düngung hat die Wiesen verändert. Mit direkten Auswirkungen auf die Insektenwelt.» Wobei er die Bauern durchaus verstehen könne, das betont Lunau: «Sie müssen von der Landwirtschaft leben können und entwickeln deshalb ihre Felder und Wiesen maschinenkonform.»
40 Jahre lang hat Professor Klaus-Rudolf Lunau (links) mit Studierenden den Schamserberg besucht. (Foto zVg)
Insekten sind von grosser Bedeutung für den Erhalt intakter Ökosysteme. Schmetterlinge, Bienen, Fliegen und Käfer bestäuben Blütenpflanzen und sind dabei teilweise so spezialisiert, dass sie nicht austauschbar sind. «Als Exempel erwähne ich gerne Charles Darwins Bild, alte englische Jungfern würden die Kampfkraft der Royal Navy stärken», sagt Lunau schmunzelnd. Das Bild geht so: Die Jungfern halten Katzen, die Mäuse fressen. Die Nester der getöteten Mäuse werden frei als Nistmöglichkeit für Hummeln. Die Hummeln können – anders als Honigbienen – Rotklee bestäuben. Der Rotklee wiederum ist besonders proteinreich. Und die damit gefütterten Rinder liefern nahrhafte Steaks, die letztlich den Soldaten der Royal Navy zugutekommen. «Dieses Bild zeichnet ein Netz ökologischer Zusammenhänge, und auf solche Netze ist letztlich auch das Wohlergehen der Menschheit angewiesen», erklärt Lunau.
Insekten bestäuben aber nicht nur Blüten, sie verbreiten Früchte, reduzieren Pflanzenschädlinge, dienen Vögeln als Nahrungsgrundlage oder machen abgestorbene Pflanzenteile, Holz und Tierleichen wieder verfügbar. «Alle diese Ökosystemleistungen», sagt Lunau, «sind gefährdet durch Flächenverbrauch, den Einsatz von Herbiziden und Insektiziden, Überdüngung und viele andere Stressoren.»
Dass der Verlust von Lebensräumen und der intensive Wandel der Kulturlandschaft zentrale Ursachen für den Wegfall von Insektenarten auch in Graubünden sind, bestätigt Peter Weidmann, Biologe bei der Churer Fachgemeinschaft für Standortskunde und Ökologie Atragene. Grundsätzlich seien eher tiefere Lagen wie das Churer Rheintal betroffen, wo tatsächlich schon Spezies verschwunden seien. Am Schamserberg sei der Zustand der Insektenwelt an vielen Orten noch sehr gut – dank der extensiven Bewirtschaftung grösserer Flächen in höheren Lagen, zum Beispiel in der Val da Larisch oberhalb Wergenstein, bei Lieptgas in den Mathoner Bergen oder beim Libisee. «Es gibt aber wie überall auch negative Entwicklungen. Der Futterbau in der Nähe der Siedlungen wird immer intensiver, entsprechend nimmt dort auch die Insektenvielfalt teils rapide ab.» Abgesehen von einigen Weidegebieten mit hoher Biodiversität wie in Valvins, Rofna oder am Fundogn bei Casti sei es «alarmierend, wie sich vor allem die Wiesen unterhalb der Waldgrenze in den letzten 40 Jahren verändert haben», konstatiert Weidmann.
Auch am Schamserberg dominieren immer mehr gedüngte Wiesen das Landschaftsbild.
Ein weiterer Faktor ist in den letzten Jahren hinzugekommen, wobei es laut Weidmann schwierig ist, seinen Einfluss zu quantifizieren: der Klimawandel. «Er spielt insofern eine Rolle, als dass sich Arten aus südlichen, mediterranen Gebieten stärker nach Norden ausbreiten können.» Und da es mediterrane Klimazonen beispielsweise auch in Asien gebe, könnten dann auch Arten aus diesen Weltgegenden bei uns Verbreitung finden – mit negativen Folgen für die hiesige Natur. «Schwierigkeiten bekommen zudem Arten in höheren Lagen, die wegen des Klimawandels noch weiter hinauf wandern müssen. Sie können irgendwann nicht mehr weiter in die Höhe ausweichen.»
Lunau sieht es ähnlich. Und er ortet noch eine weitere Schwierigkeit im Ausweichen der Tier- und Pflanzenarten in grössere Höhen: «Für den Naturschutz kann das ein grosses Problem werden. Die Grenzen der Schutzgebiete nämlich sind fix, doch jene Arten, die in diesen Gebieten eigentlich geschützt werden sollten, könnten aus ihnen nach oben abwandern.»
Und dann gibt es da noch die Krux mit den verschobenen Zeitgebern. Dazu existiert laut Lunau noch wenig Forschung, klar ist für ihn aber: Durch den Klimawandel können Organismen, die seit Tausenden von Jahren aufeinander angewiesen sind, in ihrer gemeinsamen Funktionsweise entkoppelt werden. Der Temperaturanstieg spiele sich derart schnell ab, dass sich die Tiere und Pflanzen nicht evolutiv anpassen könnten. «Ein Partner nutzt vielleicht die Tageslänge als Zeitgeber, ein anderer die Temperatur oder die Schneeschmelze – und schon werden diese Partner im Vergleich zu den Gegebenheiten vor dem Klimawandel zu unterschiedlichen Zeiten aktiv.» Die Folge: Ihr Wechselwirken funktioniert nicht mehr.
Am Libisee oberhalb von Mathon und Lohn sind die Sommerwiesen noch bunt. (Foto: Gabriela Holderegger)
«Wird es immer wärmer, werden die Probleme sicher noch zunehmen», ist Biologe Weidmann überzeugt. Doch ob nun Klimawandel oder andere Stressoren: Gegen das Insektensterben gibt es Mittel und Wege, darin sind sich die beiden Experten einig. Zum Beispiel aus landwirtschaftlicher Sicht: «Wichtig ist der Erhalt der extensiv bewirtschafteten, also nicht gedüngten Flächen, seien es nun Wiesen oder Weiden», meint Weidmann. «Die Insektenvielfalt konzentriert sich auf diese Gebiete.»
Lunau wiederum appelliert eindringlich an die Eigenverantwortung der Menschen. «Jeder kann etwas tun gegen das Insektensterben.» Im eigenen Garten für Blüten sorgen, die den einheimischen Arten dienen. Auf chemische Insektenbekämpfung verzichten. Den biologischen Landbau unterstützen. Das eigene Konsumverhalten überdenken und den ökologischen Fussabdruck reduzieren. «Und man muss das Wissen weitervermitteln, es in die Schulen und Universitäten tragen. Deshalb habe ich auch die Exkursionen an den Schamserberg organisiert. Die Studierenden wüssten sonst ja gar nicht, was aus ihrer Umwelt hier bei uns schon alles verschwunden ist.»
Eine Naturerfahrung wie in der Val Schons könne zum Auslöser für Nachdenken und letztlich Veränderung werden. Und das eigene Handeln zu ändern, sei ein Schlüssel, um die Folgen des Klimawandels zu bewältigen, ist Lunau überzeugt. Gelinge das Retten der Biodiversität, werde dies die Existenz der menschlichen Gattung entscheidend beeinflussen. Denn ein Zitat des weltweit renommiertesten Entomologen Edward O. Wilson halte er für wirklich sehr besorgniserregend: dass die Menschheit ohne Insekten nur wenige Monate überleben könnte.