Ein Aussichtsturm aus Holz, entworfen vom Architekten Gion A. Caminada, zum Stehen gebracht von Walter Bieler: Der Turm im Tierpark Goldau. (Foto: Frédéric Urben)
Terra Grischuna: Herr Bieler, befragt zu Ihrer Bauphilosophie, sagten Sie einmal: Nicht das Bauwerk soll im Zentrum stehen, sondern die Umgebung. Was heisst das?
Walter Bieler: Ich halte es für wichtig, ein Bauwerk in seinem Kontext zu betrachten. Es ist das Ganze, das zählt. Und das heisst meistens, die Gestaltung so weit wie möglich zurückzufahren. Sicher kann man etwas bauen, das die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenkt, auch das kann gut sein – nur geht das allzu oft auf Kosten der Atmosphäre.
Gilt das nun spezifisch für das Bauen im alpinen Raum, wo die Umgebung selbst schon aufregend ist, oder ebenso für das Bauen im Flachland?
Für mich gilt das überall, ganz besonders aber im alpinen Raum. Was Touristiker gerne haben, sind Bauten, die schreien, die selber ein Spektakel bilden. Doch das ist zu kurz gedacht. Ein Bauwerk sollte gestalterisch nachhaltig sein, und das ist es, wenn sich alles gut zusammenfügt, nicht nur das Bauwerk an und für sich. Man kann es auch anders betrachten: Wenn man ein Bauwerk betritt, fühlt man sich behaglich oder unwohl, man ist gerne dort oder nicht – und weiss oft nicht einmal, weshalb man sich so fühlt. Das ist keine strenge Lehre, sondern ein Gefühl.
Es geht also um Feinfühligkeit, um Intuition – nicht unbedingt Eigenschaften, die man mit einem Ingenieur in Verbindung bringt.
Das stimmt, und das wird in der Ingenieurausbildung auch nicht gelehrt. Dort geht es darum, dass das Bauwerk hält, um die Statik, um Kosteneffizienz. Aber Bauen hat eben auch ein Kulturauftrag, einen Auftrag gegenüber der Gesellschaft.
Und eine Verpflichtung gegenüber der Zukunft, ein Bau steht ja meist für 80 oder 100 Jahre.
Genau. Nur muss man sich hier keine Illusionen machen: Architektur ist heute ein Business, 75 Prozent der Bauwerke haben gar nicht den Anspruch, einen kulturellen Dienst zu leisten. Dort geht es um die Wünsche des Bauherren, und wenn der einen Erker will, weil er das im Engadin entdeckt hat, dann bekommt er eben einen Erker. Am Ende hat der Architekt vielleicht seinen Auftrag erfüllt, aber das Feinstoffliche fehlt. Gute Planung aber benötigt Zeit – und dafür hat man heute weder die Geduld noch das Geld.
Walter Bieler (Foto: Julian Reich)
Weniger ist mehr: Die Plattform Zault nimmt sich gegenüber der Landschaft zurück. (Foto Olivia Item)
Wo kann man denn ansetzen? Bei der Ausbildung? Bei der Politik?
Die Ausbildung zu stärken, ist sicherlich wichtig. Es ist jedoch nicht einfach, ein Gespür für gute Architektur zu lehren oder zu lernen. Und es wäre auch falsch, wenn der Gesetzgeber Architekturqualität durchsetzen würde. Es gibt ja Baugesetze, und die haben ihre Berechtigung. Wenn ich nun aber durch Bonaduz gehe und die Neubauten anschaue, dann sind da zwar die Höhen eingehalten, die Ausnützungsziffern und die Grenzabstände – aber das heisst noch lange nicht, dass das gute Architektur ist.
In Graubünden gibt es eine ganze Reihe bekannter Architektinnen und Architekten. Es gibt den Begriff des Stararchitekten, von einem Staringe-nieur hat man aber noch nie gehört. Allenfalls gehörte der Bündner Christian Menn dazu.
Das stimmt, solche Bezeichnungen erfindet aber ja eigentlich nur die Presse. Es gibt sicher Ingenieure, die wie Architekten in verschiedenen Kontexten immer gute Lösungen gefunden haben. Und Christian Menn war unbestreitbar einer von ihnen.
Sie selber haben sich auf den Baustoff Holz spezialisiert, und zwar schon sehr früh in Ihrem Berufsleben. Woher kommt diese Vorliebe?
Wir wohnten in Bonaduz in einem Haus, in dem auch eine Schreinerei und eine Zimmerei untergebracht waren. Dort war alles Handarbeit, jeder Zapfen wurde von Hand gezeichnet und mit dem Stechbeitel ausgehauen. Das hat mich sicherlich auf eine gewisse Weise geprägt. Später habe ich eine Lehre als Tiefbauzeichner beim Kanton gemacht, wusste aber nach drei Jahren, dass ich nicht mein Leben lang im Strassenbau tätig sein wollte. So habe ich nach dem Studium bei einem Büro in St. Gallen angefangen, wo ich viel mit Holz bauen durfte.
Und bereits mit 28 Jahren haben Sie sich selbstständig gemacht – ein ziemlicher Sprung.
Ich war zuvor ein Jahr in Übersee und habe mit wenig Geld ganz Amerika bereist, vom Norden bis in den Süden. Als ich dann zurückkam, arbeitete ich zwei Jahre lang und dachte: So, jetzt weiss ich genug, jetzt mache ich mich selbstständig. Zur gleichen Zeit traf ich meine heutige Frau Margot, und zusammen entschieden wir, nach Graubünden zurückzukehren. Der Anfang war zwar schwierig, aber schon recht bald kam mit der Eishalle Davos ein grosser Auftrag.
Der Bau gilt heute noch als Pioniertat im Holzbau, gerade was die Spannweite und die Lage anbelangt.
Das war schon nicht einfach, aus mehreren Gründen. Wir konnten aber beweisen, dass solch grosse Holzkonstruktionen mit den Schneemassen gut umgehen können. Und die andere Herausforderung war der Transport. Wir mussten die Elemente mit der Bahn hochbringen, und so bestimmte eigentlich der Engpass der Route die Gestaltung der grossen Träger mit. Durch den Cavadürli-Tunnel gingen nun mal keine grösseren Elemente durch, und so durften sie nicht länger sein als 42 Meter. Ich hätte sie ja gerne noch ein wenig grösser gehabt.
Die Punt Ruinaulta, ausgezeichnet mit dem Europäischen Holzbrückenpreis. (Foto: Ingo Rasp)
Holz als Brückenmaterial: die Punt Staderas in Laax. (Foto: Ralph Feiner)
Sie haben seither auch viele Brücken gebaut. Wie unterscheidet sich dieser Bereich von den anderen Tätigkeiten als Ingenieur?
Das ist jener Bereich, in dem man gestalterisch am meisten Einfluss hat. Sonst arbeitet man ja meist mit einem Architekten zusammen, der für die Gestaltung verantwortlich ist. Bei den Brücken aber kann man, stets im Ausgleich zu den harten Faktoren wie Gebrauchstauglichkeit und Kosten, am meisten beeinflussen und auch lernen. Jedes Projekt ist eine Gelegenheit, etwas Neues zu erfahren. Bei der Ruinaulta-Brücke beispielsweise hätte man auch eine kürzere Spannweite wählen können, dann wären die Pfeiler jedoch näher am Fluss zu stehen gekommen oder man hätte auf der Bonaduzer Seite auch einen Damm bauen können. Das ist nicht unbedingt schön, und auch der Fluss wäre so viel stärker eingezwängt worden. So haben wir die Brücke auf der Bonaduzer Seite ein wenig in die Ebene gezogen, damit sie besser in die Umgebung passt.
Und auf der Brücke hat man wiederum Gelegenheit, die Landschaft zu betrachten.
Wir sind wirklich gesegnet mit wahnsinnigen Naturblicken. Es gibt in Graubünden so viele Hotspots, und die Ruinaulta ist natürlich ein ganz spezieller. Wir haben ja auch die Aussichtsplattform Zault bauen dürfen, von der man einen wunderbaren Blick in die Schlucht hat. Gerade an solchen Orten muss man darauf achten, dass man eben nicht zu viel baut, dass man den Blick nicht verstellt. Die Berge bieten Spektakel genug.
Bauen im hochalpinen Raum: Für den Julierturm von Origen hat Walter Bieler die Statik berechnet. (Foto: Benjamin Hofer)