Eine filmische Sensation

Film Casanova

Eine der wiederentdeckten Filmrollen von Gion Peder Casanova (Bild: Fotostiftung Graubünden

Funde aus einer Schatzgrube

Am 10. Februar 1913 reist ein Gion Pieder Casanova auf dem Schiff «La Lorraine» von Frankreich nach New York, wie so viele andere Auswanderer auch. Er stammt aus Vrin. Über seine Geschichte ist wenig bekannt – seine Hinterlassenschaft ist indes umso in­teressanter.

Text Christian Dettwiler, Bilder Fotostiftung Graubünden

Auf dem Flohmarkt von Chur wurden 2006 einige Blechdosen angeboten, die eigentlich kaum Beachtung fanden. Nur Werner Haas aus Bergün zeigte Interesse und kaufte die Dosen einer Marktfrau aus Rothenbrunnen ab. Er wusste nicht, was er da erstanden hatte. Zu Hause stellte er fest, dass es sich um historisches Filmmaterial handelte – anschauen konnte er die Filme jedoch nicht, denn sie waren in einem für die Zeit der Entstehung, nämlich in den Zwanzigerjahren, ausserordentlichen 35-Millimeter-Format gedreht. Dazu kam, dass diese Filme nur Negativfilme waren, also nicht abgespielt werden konnten.
Die acht Blechdosen lagen dann lange im Keller von Werner Haas, bis er sich entschloss, die Filmbüchsen der Fotostiftung Graubünden zu übergeben. Und jetzt beginnt die Geschichte eigentlich richtig !

Vrin Film

Noch unbekannt - was auf den Filmen wirklich zu sehen ist. (Bild: Fotostiftung Graubünden)

Filme aus dem Lugnez

Der Leiter der Fotostiftung Graubünden, Pascal Werner, konnte sich keinen Reim auf die Filmdosen machen – die Recherchen begannen, zusammen mit dem Filmhistoriker Roland Cosandey von der Universität Lausanne und dem Leiter der Filmabteilung von Memoriav, der Schweizerischen Stiftung für den Erhalt von audiovisuellen Kulturgütern. Und siehe da – etwas Ausserordentliches kam zum Vorschein: Dieser Gion Pieder Casanova – im Gemeindearchiv der Gemeinde Vrin als Johann Peter Casanova verzeichnet – hat sich offensichtlich in den Vereinigten Staaten für den Film interessiert. Er wurde ­Kameramann für Fox News (nicht zu verwechseln mit der heutigen – konservativen – Fernsehstation Fox Broadcasting Company des Medienmoguls Rupert Murdoch).

Fox News war in der damaligen Zeit eine der führenden Produktions­firmen, welche für die damals in den Kinos gezeigten Film­wochenschauen verantwortlich waren. Die Filmproduktionsfirma wurde von William Fox 1919 in New York gegründet und baute schnell ein Netzwerk von Kameramännern rund um den Globus auf, um eine flächendeckende Information über Ereignisse in der Welt in den Kinos der USA zu gewährleisten.

Die Filmwochenschauen waren in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts sozusagen die Vorfahren der heutigen Nachrichtensendungen im Fern­sehen – nur eben wöchentlich und nicht täglich. In vielen Ländern der Welt (Frankreich, England, Deutschland und der Schweiz) entstanden solche Wochenschauen.

​Unbekannte Herkunft

Der Urheber der Bilder, Gion Pieder Casanova, muss nach der Realisation der Bilder aus dem Lugnez wieder in die USA zurückgekehrt sein. Was er ­danach gemacht hat, ist unbekannt. Auf alle Fälle gibt es Indizien, dass auf den insgesamt acht Filmrollen historische Bilder des Alltagslebens in der Surselva dokumentiert sind. Das ist ausserordentlich, denn bis in die Zwanzigerjahre wurden Filme in Graubünden im 35-Millimeter-Format fast ausschliesslich für touristische Zwecke realisiert. Diese wurden zumeist im Oberengadin realisiert und haben wenig dokumentarischen Wert, wiewohl sie natürlich Zeitzeugen sind.

Ob die Filmaufnahmen von Casanova je bei Fox News in der Wochenschau gezeigt wurden, ist nicht belegt. Und wie die Filmrollen dann auf dem Churer Flohmarkt gelandet sind, ist ebenso wenig bekannt. Offensichtlich müssen die Filmaufnahmen aus den Fox-Archiven nach Graubünden zurückgeschickt worden sein – durch wen und wohin, ist unbekannt. Heute liegen die Filmdosen im Archiv der Fotostiftung Graubünden und es besteht ein Projekt – zusammen mit Memoriav – die Filmrollen zu retten und allenfalls zu digitalisieren. Denn der Zustand des Filmmaterials ist kritisch. Erste Versuche zu einer Digitalisierung wurden in einem Zürcher Fotolabor unternommen und zeigen erste Resultate. Doch der Aufwand ist gross. Aber er lohnt sich: Roland Cosandey von der Universität Lausanne meint: «Das Verstehen der Bilder aus dem Fonds Haas / Casanova lohnt die Renovation eines aus­serordentlichen archäologischen und cineastischen Erbes.»

Fotostriftng GR

Eine der bisher noch nicht gesichteten Filmrollen (Bild: Ftostiftung Graubünden

Fox-News

Die Notizen von Gion Pieder Casanova zu einem Film für Fox News.

Eine unerforschte Goldmine

Das Archiv von Fox News – später Fox Movietones genannt – befindet sich heute im Archiv der University of South Carolina und hat einen Bestand mit einer verfügbaren Datenbank von über drei Millionen Filmmetern, die zwischen 1919 und 1943 entstanden sind. In dieser Datenbank taucht Gion Pieder Casanova – unter dem Namen John Peter Casanova – nur namentlich auf, keine Filmdokumente von ihm sind gespeichert.

Dennoch: Die Filmrollen von Werner Haas stammen nachweislich aus dem Archiv von Fox News und sind entsprechend beschriftet. Es gibt beispielsweise einen ziemlich kurligen Beschrieb über das Leben als Kameramann für Fox News:

«The Heilanders Transportashen / the blaken or wooth from the mountangs / I scan shoeyn the tonelse of snow, and the man / bringen down the the vouth under the snow / tru the wa­ther, and then coming doun the / valleys with it, and than shoein the Leeching / of the man and havaing thair lunchin.»

Dies sind handgeschriebene – in radebrecherischem Englisch, versetzt mit rätoromanischen Worten – Notizen von Casanavoa auf einer der Filmrollen, die er in New York abgeliefert hat. Offensichtlich ist Casanova Mitte der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts wieder in seine Heimat zurückgekehrt und hat im Januar 1927 eine Filmrolle nach New York geschickt, die einen Lawinenniedergang im Lugnez dokumentiert. Weitere Bilder zeigen die Zerstörung des Dorfs Zignau (vermerkt als Ringgenberg) nach einen Murgang oder Bergsturz. Es gibt – soweit bis heute bekannt – auch Bilder von religiösen Prozessionen, von einer Landsgemeinde und einem Alpabzug mit entsprechendem Käsetransport.

Inhalt ungewiss

Was genau dieser Gion Pieder Casanova alles gefilmt hat, ist noch unklar – wie gesagt sind die Filmrollen Negativfilme von Kodak, Agfa und Pathé Cinéma, aber sie können zumindest in Teilen gerettet werden. Offensichtlich hat Casanova aufgrund der ersten Forschungsergebnisse auch in Amerika gefilmt – so gibt es Aufnahmen der Freiheitsstatue in New York –, aber wesentlich für die Forschung der Filmgeschichte der Schweiz sind die Aufnahmen aus der Surselva. Dazu wurde nun seit der Schenkung von Werner Haas in diesem Frühjahr ein Projekt gestartet, das von der Fotostiftung Graubünden, von Memoriav und der Cinéma­thèque suisse geleitet wird. Erst wenn diese Arbeiten – mit der entsprechenden finanziellen Unterstützung – abgeschlossen werden können, weiss man mehr über das kulturelle Erbe dieses Gion Pieder Casanova aus Vrin und seiner Arbeit als Filmer.

Fotostiftung

Pascal Werner leitet die Fotostiftung Graubünden.

​Infobox

Die Forschungen am Filmprojekt laufen. Wer allenfalls mehr über den mit 18 Jahren aus Vrin im Lugnez nach Amerika ausgewanderten Gion Pieder Casanova weiss, kann sich gerne bei Pascal Werner von der Fotostiftung Graubünden melden.

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