Die typischen Zutaten einer «Engadiner» Nusstorte. (Foto: zVg)
Eine Recherche in Archiven und Antiquariaten hat nur eine kleine Zahl solcher wohlbehüteter, handgeschriebener Rezeptbücher zutage gebracht. Am ergiebigsten war die Sammlung des «Kulturarchivs Oberengadin» in Samedan mit sechs Archivalien.
Und das Ergebnis? Es gibt viele Rezepte verschiedenster Nusskuchen, solche mit Mandeln, mit Haselnüssen oder kombiniert mit Früchten, aber keines entsprach der heutigen Nusstorte. Daraus kann man schliessen: Die Engadiner Nusstorte hat keineswegs zum Repertoire ausgewanderter Zuckerbäcker gehört.
Bekannte Gerichte und Spezialitäten finden ihren Niederschlag häufig in der Literatur. Man kann also davon ausgehen, dass sich Hinweise zur Nusstorte in der romanischen Literatur des 19. Jahrhunderts finden liessen. Was lag näher, als die «crestomazia rumantscha» von Caspar Decurtins zu Rate zu ziehen. Sie wurde zwischen 1891 und 1919 zusammengestellt. Und das Ergebnis? Kaum zu glauben – kein einziger Hinweis zur Nusstorte wurde gefunden! Damit bestätigt ein weiteres Indiz, dass die Entstehung der Engadiner Nusstorte um die Mitte des 19. Jahrhunderts angesiedelt werden kann.
In Bezug auf die Kommerzialisierung der Nusstorte im 19. Jahrhundert sind die Beiträge von Dolf Kaiser mit seinen umfangreichen Recherchen und Publikationen zu den ausgewanderten Engadiner Zuckerbäckern äusserst aufschlussreich. In der französischen Fachzeitschrift «archistra» des Centre d'études et de recherches d'histoire de la France méridionale publizierte Kaiser 1977 die schicksalshafte Biografie von Bernard Kaiser, der zusammen mit seinen beiden Neffen 1831 die Konditorei Heinz & Tester in Toulouse gründete. Unter dem Stichwort: «Toulouse» in seinem Buch: «Cumpatriots in terras estras» findet sich folgender Passus: «Andrea Ratti da Madulain eira directur dal 1915. Da quel temp as rechattaiva eir allò sar Jean Steckli da Schlarigna, chi viva hoz ad Annemasse. El am scrivet d’intcuort il seguqaint: stögl agiundscher cha que füt in quista chesa chi füt creo la vaira tuorta ds nuschs cha hozindi as chatta in mincha pastizeria in Engiadina. Eau m’occupaiva della contabilited, correspondenza e dell’expediziun in divers lös in Frauntscha della famusa tuorta da nuschs chi gniva fabricheda in grandas quantiteds.»
Zusammengefasst: Jean Steckli aus Celerina war um 1915 herum Buchhalter in der Konditorei Bernhard Heinz & Tester in Toulouse. Er bestätigt, dass es sich bei der damals hergestellten Nusstorte um die heute bekannte Nusstorte gehandelt hat.
In dieser Konditorei arbeitete auch Fausto Pult von 1920 bis 1926 als Konditor, bevor er nach Samedan zurückkehrte und diese Nusstorte als erster in der Schweiz lancierte. Er gab zwar der Nusstorte den Namen «Engadiner Nusstorte», der Erfinder der Nusstorte ist er deshalb aber nicht. Darüber gab es in den letzten Jahren eine Polemik, die in der Presse breit geschlagen wurde. So konnte man in einer Boulevardzeitung lesen: «Riesenpuff um Engadiner Nusstorte».
Das Inventar des kulinarischen Erbes der Schweiz (KES) sammelt im Auftrag des Bundes das Wissen über traditionelle schweizerische Nahrungsmittel und hat bis vor Kurzem Fausto Pult als Erfinder der Engadiner Nusstorte aufgeführt. Es ist nicht verwunderlich, dass alle relevanten Referenzen, insbesondere die in romanischer Sprache, unter den Tisch gewischt wurden. In der Zwischenzeit hat das KES die Aussagen korrigiert.
Belegschaft der Zuckerbäckerei Heinz&Tester in Toulouse um 1885, hier wurde die heutige Nusstorte erstmals kommerziell hergestellt.
Der Ursprung der Engadiner Nusstorte liegt nicht im Engadin – sie wurde von ausgewanderten Engadiner Zuckerbäckern in Südfrankreich entwickelt. Der Kulturhistoriker Chasper Pult schreibt denn auch in einem Buch zur Bündner Küche: «In Frankreich entdeckten ausgewanderte Bündner diese Form der Verarbeitung der nahrhaften Nuss und entwickelten daraus über ein Jahrhundert die eigentliche Spezialität.»
Plausible Gründe sprechen dafür: Zum einen gedeihen im Engadin wegen des kühlen Klimas keine Baumnüsse. Zum anderen geniessen die exzellenten Baumnüsse aus dem Perigord heute AOC-Status. Interessanterweise sind gerade in diese Region schon sehr früh Engadiner Zuckerbäcker ausgewandert. Die ersten Konditoreien wurden 1734 von den aus Samedan stammenden Familien Tratschin und Sütt in Marseille gegründet. Die «gateaux aux noix» aus Südfrankreich hatten einen ganz grossen Nachteil, sie waren nur kurze Zeit haltbar. Die Engadiner waren aufgrund der Lebenssituation gezwungen, ihre Lebensmittel für längere Zeit haltbar zu machen und in der Speisekammer aufzubewahren. Sie hatten es schon bei Würsten und Trockenfleisch zur Meisterschaft gebracht.
Die Zutaten für die Verschiedenen Teigsorten
Wenn man das Rezept für den Mürbeteig anschaut, fällt auf, dass die Zusammensetzung des Teigs von «fuatscha grassa», eines fladenartigen Gebäcks, und der Nusstorte sehr ähnlich sind. Eigentlich erstaunt das nicht, denn die «fuatscha grassa» ist ein klassisches Engadiner Mürbeteiggebäck, ein fladenähnliches buttriges Gebäck, das von Martin P. Schmid schon 1773 erwähnt wird. Früher wurde sie für Hochzeiten und andere Festivitäten auf Vorrat produziert. Wieso nicht auch für die Nusstorte einen «fuatscha grassa»-Teig verwenden und den Kuchen vollständig mit Teig einfassen? Diese geniale Idee verhalf der Torte zu langer Haltbarkeit. Im kürzlich erschienen Buch: «Kulinarisches Erbe der Alpen» mutmasst der Autor Dominik Flammer, dass die Engadiner Nusstorte nichts anderes sei als eine mit karamellisiertem Zucker, Nüssen und Rahm angereicherte «fuatscha grassa».
Die heutigen Nusstorten werden nach dem gleichen Rezept wie das der Konditorei Heinz & Tester aus dem Jahre 1881 gebacken. Nusstorten, wie man sie heute in Bäckereien und Konditoreien kauft, entsprechen nicht ganz dem ursprünglichen Rezept aus Frankreich. In einem Kassensturztest wurden zehn käufliche Nusstorten begutachtet – mit niederschmetterndem Ergebnis. Sogar bei der am besten beurteilten Torte lautete der Kommentar: «Karamell hat
etwas Fremdes, zu wenig intensiv, zu wenig Baumnussaroma, Verhältnis Teig/Füllung nicht optimal, Teig zu wenig mürbe.» Was sind die Gründe für dieses bedenkliche Abschneiden?
Für die Herstellung einer «echten» Nusstorte braucht es in erster Linie die besonders schmackhaften AOC-Nüsse aus Südfrankreich. Sogar die Butter kann eine Rolle spielen, am besten verwendet man Butter aus Rohmilch. Und dann der Rahm: Früher verwendete man Vollrahm, entsprechend der heutigen Crème double, und nicht den auf 35 % fettreduzierten Rahm aus dem Grossverteiler.
Gateau aux noix du Perigord. Der Ursprung der Engadiner Nusstorte. (Bild: zVg)